Forum Bioethik
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Süddeutsche Zeitung, 08.04.2003


"Heilversuche mit Stammzellen in wenigen Jahren denkbar"

Ernst-Ludwig Winnacker, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft,
hält die Debatte zu Embryonenschutz und Bioethik nicht für erledigt

Ernst-Ludwig Winnacker ist Biochemiker, Gentechnik-Experte und Präsident
der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seit vielen Jahren berät er
Politiker in wissenschaftlichen Fragen. Aus dem von Kanzler Schröder
gegründeten Nationalen Ethikrat ist er jedoch ausgetreten.

SZ: Haben Sie genug von der Bioethik- Diskussion in Deutschland?

Winnacker: Nein, das Thema interessiert mich schon seit vielen Jahren
und wird mich weiter beschäftigen. Der Ethikrat hat seine Arbeit jedoch
so organisiert, dass jemand mit einem Terminkalender wie ich das auf
Dauer nicht durchhalten konnte.

SZ: Sie kapitulieren also nicht vor der ausgeprägten Skepsis des
Bundestages in Sachen Biotechnik?

Winnacker: Keineswegs. Die Diskussion ist insgesamt gut. Ich bin froh,
dass der Bundestag etwa in Sachen Stammzellen tagelang diskutiert hat -
das ist bisher einmalig für ein Forschungsthema. Ich finde auch die
Härte der Debatte nicht schlimm, denn das spiegelt die große
Unsicherheit der Bevölkerung in diesen Themen. Was mich aber ärgert, ist
die Kompromisslosigkeit, mit der argumentiert wird. Wenn zum Beispiel
von Kannibalismus die Rede ist, dann kann ich nur staunen. Oder das Lob
der Natürlichkeit: Wer meint, das Natürliche sei stets auch das
moralisch Richtige, der irrt. Will man zurück zur Säuglingssterblichkeit
des Mittelalters? Sollen Frauen wieder Kinder in zweistelliger Zahl
gebären? Die vielen Verbesserungen im Umfeld der Fortpflanzung, das ist
schon auch ein Segen.

SZ: Stimmen die Wünsche der Forschung mit der aktuellen Gesetzeslage
hundertprozentig überein?

Winnacker: Für die zurzeit anstehenden Fragen lässt sich mit dem
erlaubten Import von bestimmten Stammzellen gut arbeiten. Es kann sein,
dass dabei irgendwann etwas herauskommt, was erfordert, dass man wieder
an die Öffentlichkeit gehen muss. Im Augenblick kann ich das jedoch noch
nicht erkennen.

SZ: Was könnte das sein?

Winnacker: Es könnte sein, dass man tatsächlich embryonale Stammzellen
in medizinisch wertvolle Zelltypen umwandeln kann. Wenn sich solche
therapeutische Möglichkeiten abzeichnen, muss geprüft werden, ob die
bisher importierten Zellen noch geeignet sind. Sollten plötzlich
Hunderte von Zelllinien nötig sein, weil klinische Studien anstehen,
müsste man sicherlich umdenken. Für den derzeitigen Stand der Forschung
reichen die existierenden Zelllinien aus.

SZ: Dennoch gibt es von Ihnen bereits den Vorschlag, Stammzellbanken
bzw. Zelllinien-Sammlungen einzurichten.

Winnacker: Ich habe Stammzellbanken als denkbare Alternative zum
therapeutischen Klonen vorgeschlagen. Solche Zelllinien- Sammlungen gibt
es seit dem 1.Januar in England und dort kann jeder neue Zelllinien
hinschicken. Sie werden dort standardisiert und auf Verunreinigungen
geprüft und stehen dann zur Verfügung - für deutsche Forscher aber nur
Zelllinien, die vor dem Stichtag 1.Januar 2002 hergestellt wurden.

SZ: Würden Sie solche Banken auch gerne in Deutschland eröffnen, was
derzeit verboten ist?

Winnacker: Sollten entsprechende therapeutische Möglichkeiten
erschlossen werden, dann müsste man an die Öffentlichkeit und den
Gesetzegber gehen und sagen: Der Stichtag ist nicht mehr passend, da wir
bessere Zelllinien brauchen. Derzeit besteht dafür jedoch kein Anlass.

SZ: Kann es sein, dass Sie in der derzeitigen Stimmungslage möglichst
wenig Staub aufwirbeln wollen?

Winnacker: Ich glaube nicht, dass man in dieser Frage noch mehr Staub
aufwirbeln kann. Aber im Ernst: Ich sehe auch in der internationalen
Literatur wenig, was mir Anlass gäbe, jetzt zu sagen, wir müssen in
Deutschland ganz neue Zelllinien anlegen. Man kann ja mit den
existierenden Zelllinien arbeiten.

SZ: Viele Forscher sagen, diese Zelllinien seien verunreinigt.

Winnacker: Wenn es eines Tages zu klinischen Prüfungen an Menschen käme,
können sie die jetzigen Zellen wohl nicht verwenden.

SZ: Ab wann könnten Stammzellversuche am Menschen nötig werden?

Winnacker: Ich kann mir gut vorstellen, dass in drei, vier Jahren die
Frage auf uns zukommt, ob erste Heilversuche mit Stammzellen am Menschen
unternommen werden sollen - etwa bei Diabetes oder als Herzmuskelersatz.

SZ: Also schon in der nächsten Legislaturperiode?

Winnacker: Das ist durchaus denkbar.

SZ: Und dann kommt auch das "therapeutische Klonen" wieder aufs Tapet?

Winnacker: Hier muss zunächst an Tiersystemen geforscht werden, um den
Prozess der Reprogrammierung von Genomen zu verstehen. Das ist reine
Forschung, die derzeit auch in Deutschland möglich ist. Was einen
möglichen therapeutischen Einsatz beim Menschen betrifft, so gibt es
drei Probleme: Erstens die Frage des Risikos. Bevor wir nicht verstehen,
wie der Prozess der Zellkerntransplantation steuerbar ist, sind Versuche
am Menschen undenkbar. Sie müssen sicher sein, dass die erzeugten Zellen
keine Krebszellen sind oder vorzeitig altern. Dann kommt das Problem des
gemeinsamen Zwischenprodukts: den chimären Embryo, der beim Klonen
erzeugt wird, könnten Sie theoretisch sowohl zur Therapie verwenden als
auch zu Fortpflanzungszwecken. Das ist kaum zu trennen. Meine
eigentliche Sorge ist aber die Eizellspende: Wo sollen die vielen
Eizellen herkommen, die man bräuchte? Bereits die Stimulierung der
Eizellproduktion ist mit gewissen Risiken für die Frauen verbunden. Das
lässt sich wohl kaum einfach nur mit der Zustimmung der Spenderinnen
regeln.

SZ: Welche Chance sehen Sie also für eine "Klontherapie"?

Winnacker: Ich halte das für einen Irrweg. Ich frage mich, ob wir das
damit verbundene Risiko je in den Griff bekommen, wenn Sie die lange
Kette von schwer beherrschbaren Vorgängen anschauen, von der
Kerntransplantation bis zur Herstellung einer Stammzelle. Es ist klüger,
gleich bei der Stammzelle anzufangen, die man aus gewöhnlichen Embryonen
herstellen kann. Zudem müsste dann nicht für jeden einzeln ein eigener
Zellersatz für Transplantationen hergestellt werden. Immunologen sagen,
dass man mit 300 Zelllinien zwei Drittel der Bevölkerung abdecken kann,
ohne dass man Abstoßungsreaktionenen befürchten muss. Die anderen
müssten nach einer Zellübertragung, so es sie denn eines Tages gibt,
durch Immunsuppression behandelt werden - wie nach Transplantationen
heute.

SZ: Dem Problem der Abstoßung, das immer als Argument für das Klonen
gebracht wird, könnte man so entrinnen?

Winnacker: Ja. Ähnlich wie bei Knochenmarktransplantationen heute.
Stammzelllinien hätten gegenüber individuellen Klonen auch den Vorteil,
dass sie standardisiert und dann zugelassen werden könnten, wie man es
von Arzneimitteln erwartet. Das sehe ich als realistischeren Weg.

SZ: Kann es dennoch sein, dass die DFG in fünf Jahren ihre Ablehnung des
Klonens in ähnlicher Weise ändern wird, wie das im Falle der embryonalen
Stammzellen geschehen ist?

Winnacker: Es ist das Wesen der Wissenschaft, dass sie sich weiter
entwickelt und gegebenenfalls Positionen an den neuen Wissensstand
angepasst werden müssen. Das beinhaltet auch immer das Mitdenken von
Alternativen. Stammzellbanken wären aus heutiger Sicht in der
Gesamtabwägung eine weniger bedenkliche Alternative zum Klonen. Wir
dürfen derzeit keine Zelllinien zu Banken wie in England beitragen. Aber
das wird man im Erfolgsfall nicht durchhalten. Ob sich in Zukunft
andere, ethisch weniger belastete Möglichkeiten der Zellkernübertragung
ergeben, beispielsweise die Übertragung in entkernte Stammzellen statt
in Eizellhüllen, ist derzeit nicht abzusehen. SZ: Im Ethikrat haben Sie
sich auch mit der Präimplantationsdiagnostik (PID) beschäftigt. Sollen
Embryonen aus der künstlichen Befruchtung einen Gen-Check durchlaufen?

Winnacker: Menschen, die den schwierigen Prozeß der In-vitro-
Fertilisation auf sich nehmen, weil sie besonders gefährdet sind, kann
man diese Untersuchung meiner Ansicht nach nicht vorenthalten. Deshalb
habe ich dafür gestimmt, dass man die PID unter bestimmten Bedingungen
und Abwägungen im Einzelfall zulässt. Ich würde aber keinen Katalog von
Krankheiten machen, für die das generell erlaubt ist.

SZ: Könnte es nicht schnell zu einem Missbrauch kommen - zur Selektion
nach Geschlecht oder Augenfarbe?

Winnacker: Ich denke, dass man bei den wenigen Fällen, um die es bei der
PID geht, zumindest eine Weile lang beobachten könnte, was passiert.

SZ: All diese Dinge berühren sensible Lebensbereiche. Der Umgang damit
in der Forschung setzt Vertrauen in die Wissenschaftler voraus. Gerade
das aber ist in den letzten Jahren durch Fälle von Fälschungen
beschädigt worden. Hat man darauf ausreichend reagiert?

Winnacker: Ein einziger Fall ist schon zu viel. Aber am Ende wird man
kriminelles Verhalten nicht verhindern können. Ich denke, wir haben
durch die Einrichtung von Ombudsgruppen - bei der DFG wie an den
Forschungseinrichtungen - für Problembewusstsein gesorgt. Dass sich
Wissenschaftler mit einem Verdacht auf Fehlverhalten an diese wenden
können, ist ein wichtiges Signal, ein Damoklesschwert, das viele
nachdenklich stimmt. Darüber gibt es die Gerichte, die im Zweifelsfall
über Disziplinarmaßnahmen entscheiden. Hier muss der Gesetzgeber
allerdings überlegen, ob die derzeitigen Verjährungsfristen geeignet
sind.

SZ: Sind Sie schon an den Gesetzgeber herangetreten?

Winnacker: Wir wollen zunächst die Erfahrungen der Ombudsgremien für
einige Jahre abwarten.

SZ: Warum macht man die Fälle meist nicht öffentlich? Wer in Deutschland
Kaugummi klaut, muss sich unter Umständen einem öffentlichen Verfahren
stellen. Warum soll das nicht gelten, wenn ein Forscher fälscht?

Winnacker: Zumindest bei schweren Fällen wurde die Öffentlichkeit
informiert. Die DFG ist als Verein in ihren juristischen
Handlungsoptionen eingeschränkt. Für den Wissenschaftler ist die
Öffentlichkeit derzeit die größte Strafe. Man muss daher den Zeitpunkt
und den Umstand sorgsam abwägen, um zu verhindern, dass jemand
vielleicht zu Unrecht angeschwärzt wird. Das sind sensible Bereiche,
aber sie müssen geregelt werden - auch damit das Vertrauen in die
Forschung nicht beschädigt wird.

Interview:

Patrick Illinger und Holger Wormer


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