Interview in Spiegel online
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Gespräch mit Peter Singer: "Nicht alles Leben ist heilig"
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Philosoph Peter Singer über den moralischen Status
von Embryonen, das
Lebensrecht von Neugeborenen und die Revolution der
westlichen Ethik
SPIEGEL: Herr Professor Singer , nehmen wir an, Ihre Tochter
wäre
schwanger, und der Frauenarzt eröffnet ihr: Das
Baby wird unter
Hämophilie, der Bluterkrankheit, leiden. Würden
Sie ihr zur
Abtreibung raten?
Singer: Meine Tochter ist erwachsen und braucht meinen
Rat nicht.
Wenn sie entscheidet, dass Hämophilie keine so schwere
Krankheit ist
und dass sie die Schwangerschaft fortsetzen will
gut. Wenn sie
entscheidet, die Schwangerschaft zu beenden, weil sie
lieber ein Kind
ohne diese Krankheit haben will auch gut.
SPIEGEL: Tatsache aber ist: Sie könnte sich heutzutage
für beide
Möglichkeiten entscheiden ...
Singer: ... eine Entscheidung, die sie noch vor kurzem
nicht hätte
fällen können. Das ist richtig. Denn wenn eine
neue Technik wie die
der Gentests bereitsteht, dann stellt sie uns auch vor
neue
Entscheidungen.
SPIEGEL: Ist es diese Wahlfreiheit, die Sie meinten, als
Sie einmal
von einer "gewaltigen Verschiebung im Fundament westlicher
Ethik"
sprachen?
Singer: Ja. Wir fällen Entscheidungen darüber,
welche Art von Leben
wir fortsetzen wollen und welche nicht.
SPIEGEL: Und das führt zu einer Revolution der Ethik,
die Sie sogar
mit der kopernikanischen Wende verglichen haben?
Singer: Genau. Diese Revolution setzt sich aus vielen
Facetten
zusammen, beginnend vielleicht mit der Definition des
Hirntodes als
Tod des Menschen schon darin liegt eine Abkehr
von der Vorstellung,
dass jeder atmende, warme menschliche Organismus gleichermaßen
wertvoll ist. Zu dieser Entwicklung gehört aber
auch die Tatsache,
dass wir bei todkranken Patienten erwägen, auf eine
weitere
Behandlung zu verzichten, oder auch die Debatte um Euthanasie,
die
kürzlich in den Niederlanden legalisiert wurde
ein Beispiel, dem
Belgien vermutlich innerhalb der nächsten Monate
folgen wird. Das
Entscheidende in all diesen Fällen ist: Das Postulat,
dass alles
menschliche Leben heilig ist, gilt nicht mehr.
SPIEGEL: Und was wird an die Stelle dieses Postulats gesetzt?
Singer: Es gibt nicht mehr die einfachen konkreten Antworten,
wie
sie uns die alte Ethik bot. Das Leben ist eben zu kompliziert.
SPIEGEL: Wären nicht aber klare Antworten sehr wünschenswert,
wenn
es um etwas so Fundamentales geht wie den Tod?
Singer: Vergessen Sie nicht: Das, wovon ich spreche, geschieht
ja
längst, in jedem größeren Krankenhaus
und jeder Großstadt in der
entwickelten Welt. Es gibt Fälle, in denen man entscheidet,
dass die
Lebensqualität von jemandem, der nie wieder zu Bewusstsein
kommen
wird, nicht wert ist, erhalten zu werden. Oder dass es
besser ist,
ein Kind ohne eine bestimmte schwere Krankheit zu haben
als eines mit
dieser Krankheit. Wir fällen längst Urteile
auf der Basis von der
Bewertung von Lebensqualität. Ich plädiere
nur dafür, dass wir auch
offen darüber reden sollten.
SPIEGEL: Woher bezieht denn dann die neue Ethik, von der
Sie
sprechen, ihre Maßstäbe?
Singer: Ich glaube nicht daran, dass uns ein Gott moralische
Gesetze
auf Steintafeln überreicht hat. Wir müssen
uns schon auf uns selbst
verlassen und auf die Vernunft setzen, um einen möglichst
konsistenten Standpunkt zu entwickeln.
SPIEGEL: Schon einmal, in der Aufklärung, gab es
den Versuch, eine
Weltsicht auf die Vernunft zu gründen. Aber damals
setzten die
Philosophen, anders als Sie, die Würde des Menschen
an den Anfang all
ihrer Überlegungen.
Singer: Es stimmt, Sie finden diesen Gedanken Ende des
18.
Jahrhunderts in der Erklärung der Menschenrechte.
Aber nehmen Sie zum
Beispiel Kant: Er sagt, der Mensch sei stets als "Zweck
an sich
selbst" zu betrachten. Doch wenn Sie sich seine Argumentation
genauer
ansehen, dann stellen Sie fest, dass er sich auf die
Fähigkeit zu
Vernunft und Autonomie beruft. Dieser Gedanke ist dann
missbraucht
worden, um allen menschlichen Wesen diesen Status zuzusprechen
obwohl es keine 30 Sekunden Nachdenken braucht, um sich
klar zu
machen, dass es durchaus menschliche Wesen gibt, die
weder
vernunftbegabt noch autonom sind.
SPIEGEL: Lassen Sie uns versuchen, Ihr Denkmodell auf
Embryonen
anzuwenden. Zunächst: Wann beginnt in Ihren Augen
menschliches Leben?
Singer: Darüber gibt es unterschiedliche Meinungen
aber unter
ethischem Gesichtspunkt ist es gar nicht furchtbar wichtig,
für
welche davon man sich entscheidet.
SPIEGEL: Nein? Über keine Frage wird in der gegenwärtigen
Debatte um
embryonale Stammzellen so erbittert gestritten wie über
diese.
Singer: Das ist eben falsch. Moralisch wichtig ist doch
nicht, ob
ein Embryo menschliches Leben ist, sondern einzig die
Frage, welche
Fähigkeiten und Eigenschaften er hat. Denn auf diese
gründet sich
sein moralischer Status.
SPIEGEL: Ein früher Embryo hat aber kaum höhere
Fähigkeiten als ein
Bakterium oder, sagen wir, eine Kartoffelpflanze. Also
steht er mit
ihnen auf einer moralischen Stufe?
Singer: Der Unterschied besteht aber darin, dass der Embryo
leibliche Eltern hat, denen dieser Embryo etwas bedeuten
könnte. Und
die hat eine Kartoffelpflanze nicht.
SPIEGEL: Solange aber diese Eltern damit einverstanden
wären, könnte
man diesen Embryo für jeden beliebigen Zweck verwenden
selbst wenn
man Embryos zu einer Schönheitscreme oder einem
Potenzmittel
verarbeiten wollte?
Singer: Ein ethisches Problem hätte ich damit nicht.
Ich habe große Bedenken, dass wir Tiere essen und
Experimente mit
ihnen machen
SPIEGEL: Dann gilt das Gleiche vermutlich erst recht für
die
Präimplantationsdiagnostik, die mit dem Töten
von Embryonen verbunden
ist.
Singer: Ganz genau. Wenn Sie vor der Implantation an einem
Embryo
einen Gentest vornehmen und dann entscheiden, dass dies
nicht die Art
von Embryo ist, die Sie wollen, dann habe ich keinen
Einwand dagegen,
ihn zu zerstören.
SPIEGEL: Spielt es in Ihren Augen denn gar keine Rolle,
dass dieser
Embryo zwar keine Vernunft hat, aber doch immerhin das
Potenzial,
Vernunft zu entwickeln?
Singer: Nein jedenfalls nicht in dieser Welt, in
der wir keinen
Mangel an Menschen haben. Wir haben ja kein Problem damit,
die
Weltbevölkerung zu vermehren wenn überhaupt,
dann mit dem
Gegenteil.
SPIEGEL: Wann wachsen dem Embryo denn, nach Ihrer Auffassung,
erstmals irgendwelche Rechte zu?
Singer: Ein wesentlicher Punkt ist das Einsetzen von
Schmerzempfinden. Ab diesem Zeitpunkt verdient der Embryo
einen
gewissen Schutz ähnlich wie ihn ein Tier auch
verdient.
SPIEGEL: Das heißt: Vorher gleicht der Embryo, ethisch
betrachtet,
einer Kartoffel, nun steigt er auf zum moralischen Wert
einer Ratte?
Singer: Was den Embryo selbst betrifft, würde ich
die Frage mit "Ja"
beantworten allerdings mit der Einschränkung,
dass es, wie schon
gesagt, eine Sicht der Eltern gibt, die es zu berücksichtigen
gilt.
SPIEGEL: Ändert sich an diesem Status dann etwas
durch die Geburt?
Singer: Nun, die Geburt ist schon von einer gewissen Bedeutung,
denn
von diesem Zeitpunkt an entscheidet nicht mehr die Mutter
allein, ob
ein Kind leben soll. Wesentlich ist zudem, dass sich
von diesem
Zeitpunkt an auch Adoptiv- oder Pflegeeltern des Kindes
annehmen
können. Trotzdem betrachte ich die Geburt nicht
als einen absoluten
Wendepunkt, an dem man sagen könnte: Vorher hat
der Fötus keinerlei
Lebensrecht, nachher hat er dasselbe Lebensrecht wie
jeder gesunde
erwachsene Mensch.
SPIEGEL: Verstehen wir Sie richtig? Wenn Sie ein frisch
geborenes
Baby ethisch gleichsetzen mit Tieren, bedeutet das, dass
Babys zu
essen moralisch gleichzusetzen wäre mit dem Verzehr
eines
Rindersteaks?
Singer: Umgekehrt: Ich habe große ethische Bedenken
dagegen, dass
wir Tiere essen und medizinische Experimente mit ihnen
machen. Nun
können wir ja nicht einfach sagen: Wenn wir Tieren
Unrecht tun,
dürfen wir das auch mit Babys.
SPIEGEL: Dann stellen wir die Frage anders: Ihre Kollegen
hier in
Princeton experimentieren mit Ratten und töten sie
anschließend. Ist
dies moralisch ebenso zu bewerten, wie wenn sie dasselbe
mit
menschlichen Babys machen würden?
Singer: Nein. Experimente mit Babys wären wohl kaum
in
Übereinstimmung zu bringen mit unserem generellen
Wunsch, dass sich
Menschen um Babys kümmern. Die meisten Eltern wollen
gute Eltern
sein, Beschützer ihrer Kinder. Und es wäre
zu schwierig, ihnen zu
erklären, dass völlig normale Kinder zu Experimenten
gebraucht und
dann umgebracht würden.
SPIEGEL: Es wäre aber, wenn man Ihre Gedanken zu
Ende denkt,
folgerichtig.
SINGER: Vielleicht in einem sehr theoretischen Sinne.
Aber Sie
müssen vorsichtig sein, ehe Sie daraus politische
Schlussfolgerungen
ziehen.
SPIEGEL: Das ist ja sehr beruhigend!
Singer: Man muss schon berücksichtigen, dass Menschen
Babys starke
Gefühle entgegenbringen. Diese Gefühle können
Sie nicht einfach
beiseite werfen ...
SPIEGEL: ... genau das scheinen Sie aber an anderer Stelle
zu tun.
Wenn es um Embryonen geht, dann gilt Ihnen die emotionale
Beziehung
wenig.
Singer: Die ist ja aber auch viel geringer.
SPIEGEL: Glauben Sie denn, dass in unserem Urteil über
den Wert von
Embryonen oder Babys kulturelle Überlieferungen
eine wesentliche
Rolle spielen?
Mein Vorschlag war, das volle Lebensrecht erst 28 Tage
nach der
Geburt in Kraft zu setzen
Singer: Durchaus. Man könnte sich theoretisch eine
Gesellschaft
vorstellen, in der die Werte anders wären, eine
Gesellschaft, die
eine Unterscheidung machen würde zwischen den Babys,
die wirklich
geliebt und aufgezogen werden, und anderen, die man der
Wissenschaft
spendet. Man könnte Science-Fiction darüber
schreiben ...
SPIEGEL: ... oder auch in der Wirklichkeit sich die Vorschläge
einiger Forscher ansehen. Die ersten haben ja bereits
über
menschliche Klone nachgedacht, die einzig der Organproduktion
dienen.
Was halten Sie von solchen Ideen?
Singer: Man müsste solche Klone ja gar nicht bis
zur Geburt reifen
lassen. Es würde ja reichen, sie nur bis zu dem
Punkt zu kultivieren,
bis sich die Organe zu entwickeln beginnen. Dann könnten
Sie diese
Organe isolieren und weiterentwickeln. Wenn das erst
einmal technisch
möglich wäre, dann sähe ich darin nichts
Schlimmes.
SPIEGEL: Sie verknüpfen das vollwertige Lebensrecht
offenbar mit der
Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. Ab wann können
Sie diese Fähigkeit
denn bei einem Baby erkennen? Wenn es sechs Monate alt
ist? Zwei
Jahre? Oder vielleicht erst mit vier?
Singer: Das ist schwer zu sagen. Es hängt davon ab,
was genau Sie
unter Selbstbewusstsein verstehen. Ich neige dazu zu
sagen,
irgendwann im Laufe des ersten Lebensjahres. Bis zu diesem
Zeitpunkt
mag man das Leben eines sich entwickelnden Kindes auf
verschiedene
Weise schützen. Trotzdem finde ich, dass man nicht
eindeutig sagen
kann: Das Vergehen, ein solches Kind zu töten, ist
ebenso schwer wie
das Vergehen, einen erwachsenen, voll seiner selbst bewussten
Menschen zu töten.
SPIEGEL: Sie koppeln also das Lebensrecht, das höchste
aller
menschlichen Rechte, an einen Zeitpunkt, den Sie allenfalls
sehr vage
benennen können?
Singer: Die menschliche Entwicklung ist ein gradueller
Prozess. Da
wäre es doch sehr seltsam, wenn dieses Recht ganz
plötzlich
auftauchen würde. Etwas ganz anderes ist es natürlich,
dieses Recht
juristisch festzulegen. Da brauchen Sie eine scharfe
Trennungslinie.
SPIEGEL: Und wo soll man die ziehen?
Singer: Da können Sie sehr unterschiedlich argumentieren.
Sie können
sagen: Ethisch ist es zwar nicht plausibel, einem Neugeborenen
die
vollen Rechte zuzusprechen, aber wir entscheiden uns
trotzdem dafür,
weil die Geburt eine so schön klare Trennungslinie
ist. Das ist
durchaus eine Möglichkeit ...
SPIEGEL: ... aber nicht die, die Sie bevorzugen?
Singer: Ich habe einmal den Vorschlag gemacht, eine Phase
von 28
Tagen nach der Geburt festzusetzen, nach der dann das
volle
Lebensrecht erst in Kraft tritt. Das ist zwar ein sehr
willkürlicher
Zeitpunkt, den wir einer Idee aus dem antiken Griechenland
entlehnt
haben. Aber es würde den Eltern Zeit für ihre
Entscheidungen geben.
SPIEGEL: Das heißt, so lange sollen Eltern ihr Kind
töten dürfen,
einfach nur, weil sie es eben nicht wollen?
Singer: Das hängt von den Umständen ab. In allen
entwickelten
Ländern ist die Nachfrage nach halbwegs gesunden
Kindern zur Adoption
wesentlich größer als das Angebot. Warum also
sollten sie ein Kind
töten, wenn es Eltern gibt, die es gern adoptieren
würden?
SPIEGEL: Und nicht "halbwegs gesunde" Kinder lässt
man dann eben
sterben?
Singer: Das mag sich fundamental unterscheiden von unserer
offiziellen christlichen Ethik. Aber in vielen anderen
Kulturen wird
es keineswegs als grausam betrachtet. Im antiken Griechenland
wurde
ein Kind erst nach 28 Tagen in die Gesellschaft aufgenommen
vorher
durfte man es in den Bergen aussetzen. In Japan war es
lange völlig
normal, Kinder zu töten, wenn Geburten zu dicht
aufeinander folgten.
SPIEGEL: Dass dies bei uns verboten ist, ist doch eine
große
humanitäre Errungenschaft.
Singer: Die Christen pflegen alles, was sie machen, als
moralischen
Fortschritt zu betrachten. Ich habe da meine Zweifel.
SPIEGEL: Bisher haben wir weitgehend über gesunde
Babys gesprochen.
Wie aber steht es mit schwer behinderten Babys, die möglicherweise
nie volles Bewusstsein ihrer selbst erlangen werden.
Kommen die nie
im Laufe ihres Lebens in den Genuss eines vollwertigen
Rechts zu
leben?
Singer: In derartigen Fällen bin ich der Auffassung,
dass sie selbst
kein derartiges Recht haben. Aber sie können Eltern
haben, denen sie
etwas bedeuten, die ihnen Liebe geben und die sich um
sie kümmern.
SPIEGEL: Und wenn sich die Eltern nicht kümmern?
Wer soll denn dann
entscheiden? Und nach welchen Maßstäben? Soll
es dann einfach heißen:
Das Pflegen wird uns zu teuer?
Singer: Die Gesellschaft trifft doch derartige Entscheidungen
längst. Etwa wenn Operationen nicht mehr gemacht
werden, die das
Leben eines schwerstkranken Babys verlängern würden.
SPIEGEL: In Deutschland wurde schon einmal entschieden,
Geisteskranke und Behinderte zu töten. Das war Ende
der dreißiger
Jahre, als die Nazis begannen, zu vernichten, was sie
"unwertes
Leben" nannten.
Singer: Aber da gibt es wesentliche Unterschiede zu dem,
was ich
sage. Viele der damals Ermordeten besaßen durchaus
Selbstbewusstsein.
Außerdem wurden damals die Eltern nicht informiert.
Vor allem aber
war die Motivation eine ganz andere. Damals wollte man
degeneriertes
Leben, nutzlose Menschen aussortieren. Ich plädiere
nicht dafür, dass
der Staat die Entscheidung fällt, sondern die Eltern
...
SPIEGEL: ... wenn sie sich zu dem Kind bekennen. Wenn
nicht, dann
entscheidet bei Ihnen offenbar doch der Staat.
Singer: Sagen wir es so: Wenn Menschen auf einem so niedrigen
intellektuellen Entwicklungsstand sind, dass sie ihrer
selbst nicht
bewusst sind, dann sind wir nicht verpflichtet, sie am
Leben zu
erhalten. Aber ich halte es für durchaus vernünftig,
wenn sich eine
wohlhabende Gesellschaft dafür entscheidet, sie
zu pflegen und damit
unseren Respekt für sie auszudrücken.
SPIEGEL: Sie wollen sagen: Wir sind nicht verpflichtet,
sie
umzubringen? Verstehen Sie es eigentlich, wenn Behinderten
bei
derartigen Worten angst und bange wird?
Singer: Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Ich
habe schon mit
sehr vielen Behinderten geredet, zum Beispiel gerade
erst vor einem
Monat in New Hampshire. Da waren mehrere hundert Leute
im Auditorium,
und jeder davon war entweder selbst behindert oder er
arbeitete mit
Behinderten. Und, ja, dort gab es auch einige, die erklärten,
sie
seien ohnehin schon Opfer von Diskriminierung. Und meine
Thesen
würden das nur noch verstärken. Aber es gab
auch andere, die mir
zugestimmt haben und die erklärt haben, sie wollten
nicht, dass ihre
Kinder unter denselben Behinderungen leiden wie sie selbst.
Und dass
sie sich, wenn sie die Wahl hätten, für Kinder
ohne diese
Behinderungen entscheiden würden.
Ich kann durchaus Menschen verstehen, die sich durch meine
Thesen
bedroht fühlen
SPIEGEL: Wie reagieren Sie denn auf diejenigen, die Ihnen
Diskriminierung vorwerfen? Die Behinderten-Organisation
"Not Dead
Yet" hat Sie sogar zum gefährlichsten Mann auf Erden
erklärt ...
Singer: ... na ja!, spätestens seit dem 11. September
gibt es hier
in Amerika einen anderen aussichtsreichen Kandidaten
für diesen
Titel. Aber im Ernst: Ja, ich kann Menschen verstehen,
die sich
beleidigt oder bedroht fühlen durch meinen Standpunkt.
Ich verstehe,
dass sie darin eine Ablehnung dessen sehen, wofür
ihr ganzes Leben
stand. Ich verstehe auch die Hingabe, mit der sie ihre
Art des Lebens
führen. Trotzdem ändert das nichts daran, dass
ich sage: Wenn Sie die
Wahl haben zwischen einem Leben mit und einem Leben ohne
Behinderung,
dann ist es sinnvoll, sich für das letztere zu entscheiden.
SPIEGEL: Herr Professor Singer, wir danken Ihnen für
dieses
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