Forum Bioethik Kommentar zur Stellungnahme des "Nationalen Ethikrates" zu PID
 

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.01.2003, Nr. 20 / Seite 10

Leben auf Probe

G.H. Der einschneidende Satz steht auf Seite 68 der 81 Seiten
umfassenden Stellungnahme des Nationalen Ethikrates. Da votiert die
Ratsmehrheit dafür, neben der bereits zugelassenen Pränataldiagnostik
(PND) auch die Präimplantationsdiagnostik (PID) zuzulassen. Mit
entwaffnender Offenheit wird mehr festgestellt als behauptet: "Eine
Zeugung ,auf Probe' ist in beiden Fällen gleichermaßen gegeben." Weil
also die PND letztlich die Zeugung eines Kindes "auf Probe" zuläßt ("Mal
sehen, ob es auch pflegeleicht ist"), soll das Tor weiter geöffnet
werden: Die Selektion soll schon nach der künstlichen Befruchtung vor
der Einsetzung in den "Mutter"-Leib stattfinden können. Dies versehen
Schröders Ethiker auch noch mit einer Rechtfertigung: Die Tötung eines
Fetus sei "ein viel gravierender Vorgang als die ,Verwerfung' eines
Embryos im 6- bis 10-Zell-Stadium". Damit haben die Ethiker allerdings
die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen durchstoßen. "Die Würde
des Menschen ist unantastbar", lautet der Kernsatz des Grundgesetzes. Da
ist weder von Menschsein "auf Probe" die Rede noch von Lebensphasen, in
denen die "Verwerfung" menschlichen Lebens mehr oder weniger
"gravierend" ist. Sollten Politiker versuchen, die Ansichten des
Nationalen Ethikrates Gesetz werden zu lassen, muß das
Verfassungsgericht einschreiten.
 
 

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.01.2003, Nr. 20 / Seite 37

Alle mal herhören! ruft der Ethikrat - warum?

Wie der Ethikrat seine eigenen Argumente unterläuft

Gestern hat ein fünfundsiebzigseitiger Schriftsatz das Licht der Welt
erblickt, der in grammatisch und rhetorisch einwandfreier Form vorführt,
wie sich beinahe jeder tragende Begriff, kaum ist er gesetzt, ein paar
Zeilen später auch schon wieder selbst unterläuft, so daß er sich
gegebenfalls auch als sein Gegenteil lesen läßt. Wenn das die Konsequenz
von Stellungnahmen eines mit unterschiedlichen Positionen besetzten
Normierungsgremiums wie dem Ethikrat ist, dann läuft dies auf die
Selbstentwertung solcher Stellungnahmen als Sophismen hinaus. Jedenfalls
wird der Ethikrat nicht umhinkommen, für weitere Stellungnahmen sich
einen Modus der Gesamtredaktion zu überlegen, der unseren demokratischen
Prozeduralismus nicht mit semantischer Beliebigkeit verwechselt.

Die gestern veröffentlichten Darlegungen zur Pränatal- und
Präimplantationsdiagnostik (PND und PID) gehorchen durchweg demselben
Schema: Nie wird wirklich klar, warum bestimmte Vorgänge "ethisch
vertretbar/nicht vertretbar" sein sollen, während man über andere sagen
dürfen soll: "bedarf weiterer Erörterungen in der Gesellschaft". Man
erhält keinerlei befriedigenden Aufschluß darüber, warum sich der
Ethikrat über den einen Vorgang bereits ein Urteil glaubt erlauben zu
dürfen, während er den anderen erst noch der weiteren gesellschaftlichen
Debatte anheimgeben will. Wenn es, wie der Ethikrat hervorhebt, "auf dem
sich rasch entwickelnden Gebiet der Reproduktionsmedizin" um "eine
laufende Evaluation der Praxis mit Blick auf legislativen
Novellierungsbedarf" geht - mit welchem Recht will man das Primat der
Praxis hier unterdrücken, während man es dort zulassen will?

Wenn am Ende doch die soziologische Perspektive für die normative
gehalten werden soll, wenn also, wie es an einer Stelle des Berichtes
wissenssoziologisch völlig korrekt heißt, jede Entscheidung zu
biomedizinischen Fragen "als Teil eines offenen, kontinuierlich zu
verfolgenden Regelungsprozesses" anzusehen ist - wie kommt der Ethikrat
mit dieser selbst gesetzten Prämisse dann aber darauf, an einer
beliebigen Stelle dieses Prozesses "Alle mal herhören!" zu rufen und der
Gesellschaft ein Tun oder Lassen ans Herz zu legen? Die jüngste
Stellungnahme zeigt mithin vor allem noch einmal eins: Daß der Ethikrat
für seine ethischen Stellungnahmen nicht mehr Autorität beanspruchen
kann als jeder Bürger des Gemeinwesens.

Aber selbst der Rückzug auf den minimalistische Anspruch, die in der
Gesellschaft vorhandenen Argumente übersichtlich "aufzubereiten", wird
durch die gestern veröffentlichte Stellungnahme konterkariert. Denn
tragende Begriffe wie "existentieller Konflikt" bleiben - wie auch
anders? - undefiniert und produzieren in ihrer gleichwohl normativen
Anwendung eine kriteriologische Unschärfe, die den kunstvoll
aufgeschichteten Argumenten immer wieder den Boden entzieht. So wird
etwa ein schwerer existentieller Konflikt für den Fall diagnostiziert,
daß ein genetisch belastetes Paar auf ein genetisch eigenes Kind
verzichtet, statt PID zu machen. Aber "ethisch wie verfassungsrechtlich
nicht vertretbar" sollen PND und PID dann sein, "wenn sie dem Ausschluß
leichter oder wirksam therapierbarer Erkrankungen, dem Ausschluß von
Risikoerhöhungen für später nur möglicherweise ausbrechende
Erkrankungen, dem Ausschluß der Trägerschaft einer rezessiv vererbten
Krankheit" dienen. In diesen Fällen sei "nicht davon auszugehen", daß
das Paar durch die Geburt des Kindes in einen existentiellen Konflikt
geraten würde.

Woher will der Ethikrat das denn wissen, kann man sich da nur fragen.
Hat er nicht wenige Zeilen zuvor noch die subjektive Antizipation eines
Konflikts als "entscheidenden Legitimationsgrund" für jedweden
selektierenden Vorgang bekräftigt? Muß es, bei dieser Prämisse, nicht
jedem Paar selbst überlassen bleiben, was es als antizipierten
existentiellen Konflikt empfindet? Wieso soll es sich von einem Ethikrat
vorschreiben lassen, wo der Konflikt zu beginnen und wo er zu enden hat?

Noch im selben Abschnitt scheint der Ethikrat die Haltlosigkeit seines
Kriteriums denn auch zu erkennen und unterläuft das zuvor Gesagte mit
einem Federstrich: "Spätmanifestierende Krankheiten" sind nun nicht
länger ein ethisch und verfassungsrechtlich "nicht vertretbarer" Grund
für PID und PND, sondern erscheinen plötzlich als "Grenzfall": Zwar sei
eine solche zu erwartende Krankheit bis zu ihrem Ausbruch möglicherweise
therapierbar; gleichwohl sei es möglich, daß auch solchermaßen belastete
Paare in einen existentiellen Konflikt geraten. "In derartigen
Ausnahmefällen kann es unvertretbar sein, die PID zu versagen." Das ist
Normierung nach Art des Ethikrats: In jedes "Verbot" baue man die
Erlaubnis gleich mit ein. Fünfundsiebzig Seiten sollten für dieses
Kunststück nicht zu viel gewesen sein.

CHRISTIAN GEYER
 

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