Forum Bioethik

Interview mit Claus Fussek in der Süddeutschen Zeitung vom 10.09.2001 über den Pflegenotstand in deutschen Einrichtungen

              „In unseren Heimen kostet Verdursten 6000 Mark“ 

 Nach der UN-Kritik am Pflegenotstand fordert der Münchner Experte Claus Fussek die Politiker zum Handeln auf. 

Die Kritik des Genfer UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte an den Pflegemissständen in deutschen Heimen ist für den Münchner Sozialarbeiter und Pflegeexperten Claus Fussek die Bestätigung, dass auch die Politiker in Bund und Land stärker in die Pflicht genommen werden müssen. 

SZ: Was wollen Sie denn tun, damit Ministerpräsident Edmund Stoiber neben High-Tech auch die Pflege zur Chefsache macht? 

Fussek: Wir werden ihn vorführen, bis er endlich einmal den Mund aufmacht. Für mich ist es unbegreiflich, dass der Ministerpräsident den Pflegenotstand noch immer ignoriert. Das Problem hat eine Größenordnung angenommen, zu der ein
Politiker – wenn er es ernst mit den Menschen meint – nicht schweigen kann. 

SZ: Sind Sie sicher, dass Ihnen die Kritik der Vereinten Nationen an den Missständen in den deutschen Pflegeheimen wirklich hilft? 

Fussek: Das war eine Bombe. Damit hätte ich nie gerechnet. Wir hatten zehn bis 15 Minuten Zeit, dem Gremium die gravierendsten Missstände zu schildern, und dann blieb dem deutschen UN-Vertreter gar nichts anderes übrig, als das alles zu
bestätigen – natürlich in der bekannten Relativierungsform. Aber dennoch – es ist ein Durchbruch. Endlich werden die Zustände in unseren Heimen nicht mehr als Bagatellen oder Einzelfälle runtergespielt, sondern als das benannt, was sie sind – eine Verletzung der Menschenrechte. 

SZ: Wenn eine Bombe explodiert, dann wird es danach meist totenstill. 

Fussek: Nein, das wird in diesem Fall nicht geschehen. Sobald das Bild der Bundesrepublik Deutschland im Ausland Schaden zu erleiden droht, werden unsere Politiker in der Regel aktiv. Und jetzt weiß die Weltöffentlichkeit, dass nicht nur in Äthiopien und Eritrea Menschen verdursten und verhungern, sondern auch in deutschen Pflegeheimen – nur bei uns kostet das Verhungern und Verdursten 6000 Mark an Heimentgelt. 

SZ: Das ist eine kühne Behauptung. Können Sie die auch belegen? 

Fussek: Wir haben in Genf nichts anderes gemacht, als den offiziellen Bericht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen zu zitieren, den in Deutschland alle politischen Ebenen leider weitgehend ignoriert haben. 

SZ: Doch bestimmt nicht die bayerische Sozialministerin Christa Stewens? 

Fussek: Frau Stewens ist offensichtlich abgetaucht. Ich hatte mir nach ihrem vielversprechenden Amtsantritt mehr erhofft. Aber auf Bundesebene ist es sogar eine Katastrophe. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt und Bundes-
familienministerin Christine Bergmann haben die Pflege verraten – die Pflegebedürftigen und die engagierten Pflegekräfte. 

SZ: Starke Worte, Herr Fussek. 

Fussek: Frau Bergmann stellt sich immer noch hin und behauptet wider besseres Wissen, in den deutschen Heimen werde gut und aufopferungsvoll gepflegt und die Missstände seien zwar bedauerlich, aber doch nur Einzelfälle. Dabei kommt das
Pflegepersonal oft nicht einmal mehr dazu, die Grundversorgung sicherzustellen. Sie haben vielfach nicht die Zeit, den alten Menschen die Nahrung so einzugeben, dass diese sie in Ruhe kauen und schlucken können. Das ist die Realität. 

SZ: Ist das wirklich die Realität? 

Fussek: Ja, auch die Funktionäre der Kostenträger, Ärzte und Betreuer bestätigen mir das ständig und können in vertraulichen Gesprächen über den Pflegenotstand noch ein Beispiel draufsetzen. Bei solchen Gesprächen gibt es drei Textbausteine, die kann ich schon nicht mehr hören: „Herr Fussek, ich könnte Ihnen Dinge erzählen, die glauben Sie gar nicht“ – „Herr Fussek, ich kann mich doch darauf verlassen, dass das unter uns bleibt“ – Herr Fussek, wenn wir ehrlich wären, müssten wir doch zugeben, dass .. .“ Zum Kotzen ist das! 

SZ: Dann müsste es Ihnen ja schon lange übel sein? 

Fussek: Dieses Gefühl der eigenen Ohnmacht drückt mich bisweilen nieder – und das bei einem Thema, das früher oder später jeden einzelnen von uns betrifft. 

SZ: Welche Hoffnung haben Sie? 

Fussek: Ich hoffe auf den Aufstand der Anständigen. 

                                                                  Interview und Foto: Dietrich Müller

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