Kurzbericht von der Frühjahrstagung des Arbeitskreises
zur Erforschung der NS-"Euthanasie" und Zwangssterilisation
vom 26.- 28. April 2013 in Stralsund

Die Tagung begann mit einer öffentlichen Veranstaltung im alten Rathaus in Stralsund. Etwa 60 Personen nahmen an der Tagung teil, die an den beiden weiteren Tagen im Klinikum West durchgeführt wurde. - Die Tagung war auch im Veranstaltungsteil der Süddeutschen Zeitung vom 26.April angekündigt worden.

1. Tag: Freitag, der  26. April 2013 (Rathaus Stralsund)

Begrüßung

Jan Armbruster, Klinikum West, Stralsund
Dr. A. Badrow, Oberbürgermeister der Hansestadt Stralsund

Jan Armbruster, Psychiater am Klinikum West in Stralsund, eröffnete die Tagung und begrüßte die Teilnehmer der Veranstaltung.
Dr. A.Badrow, Oberbürgermeister der Stadt Stralsund, wies in seiner Begrüßungsrede darauf hin, dass es nun in seiner schönen Stadt eine wichtige Tagung mit einem jedoch bedrückenden Thema gäbe. Diese Tagung sei ein weiterer Anstoß dafür, eine Stolperschwelle für die Opfer der NS-"Euthanasie" am Krankenhaus einzurichten. Die Umsetzung dazu sei "schon sehr nahe".

 

Prof. Dr. M.Birth, Direktor des Helios Hanseklinikums Stralsund

In einer sehr engagierten Rede ging Prof.Birth auf die Problematik der Medizin von früher und heute ein. Dazu führte er ein Beispiel eines Euthanasie-Opfers aus dem neuen Buch von Götz Aly "Die Belasteten" an. Wenn man heute von solchen Beispielen erzählt, hört man oft den Satz: "Kann man damit nicht endlich aufhören. Es ist ja schon lange her." Birth gab darauf eine kurze klare Antwort: "Nein". Erinnerung sei wichtig, und erinnern heiße "gedenken und informieren".
Zwei Fragen gäbe es insbesondere zu dem Thema:
1. Wie konnte es dazu kommen?
2. Kann es wieder geschehen?
Mit Bezug auf Primo Levi antwortete Prof. Birth: "Ja, es kann." Zum einen müsse man die Entwicklung von damals sehen, die Entwicklung einer "entfesselten Wissenschaft", die bis zur Tötung führte. - Auch heute gäbe es eine "kriminelle Energie" bei einzelnen Medizinern, sei es beim "Transplantationsskandal", sei es in der Frage "unnötiger Operationen" usw. Ein besonderes Problem sei auch die Ökonomisierung der Medizin heute. Die Medizin erscheine daher auch wie ein Januskopf. - Eine gesellschaftlich- moralische Diskussion sei daher wichtig. In besonderer Weise müsse dabei berücksichtigt werden, dass ökonomische Interessen wichtig sind, sie dürften aber nicht gegen Menschenwürde aufgewogen werden.

Andreas Speck, Geschäftsführer des Landesverbandes Sozialpsychiatrie M-V e.V.

Er wies darauf hin, dass der Landesverband Mecklenburg-Vorpommern ein Mal im Jahr, jeweils am 27. Januar, eine Gedenkveranstaltung durchführe. Aber der Blick gehe dabei nicht nur zurück. Ein wichtiger Einschnitt sei für ihn 1948 gewesen, als Roosevelt dafür eintrat, die Freiheitsrechte zu garantieren. Das habe u.a. dazu geführt, dass im Jahr 2006 die Behinderten-Rechtskonvention der Vereinten Nationen verabschiedet worden sei, die 2009 von Deutschland ratifiziert wurde. Damit sei auch ein neuer Behindertenbegriff geprägt worden. Es sei die Frage, was Normalität sei, es gehe nicht nur um Optimierung oder Anpassung. Das Ziel sei nicht nur Integration, sondern Inklusion als eine gemeinsame, gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Vorträge:

Harald J. Freyberger, Greifswald/ Stralsund, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie:
Zum Stand der Aufarbeitung der NS-Zeit an der Stralsunder Klinik

Auf vier Bereiche ging H.J. Freyberger in seinem Vortrag ein:
1. Die Toten des 1.Weltkrieges
2. Zwangssterilisation
3. Krankenmorde
4. Aufarbeitung und Epilog

Zu 1: Schon im 1.Weltkrieg gab es viele Kriegsopfer, die in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht wurden und hier oft durch "stille Euthanasie" starben. Die Ursache war meist Entzug durch Nahrungsmittel. Man geht von 42.325 solcher Kriegsopfer in 334 psychiatrischen Einrichtungen aus. Die höchste Sterberate war dort im Jahr 1917.

Zu 2: In Stralsund gab es in der Zeit von 1933-39 bezüglich der Zwangssterilisation 652 Eingriffe, die in 3 Fällen zum Tode führten. In 194 Fällen wurden die Betroffenen durch Kreisärzte eingewiesen.

Zu 3: Der Krankenmord fand in Pommern schon sehr früh statt, was mit dem radikalen Gauleiter Franz Schwede-Coburg zusammenhing. Schon im Nov/ Dez 1939 erfolgten die Abtransporte aus der Stralsunder Anstalt, die dann bereits im Dez 1939 der SS übergeben wurde.

Zu 4: Zur Aufarbeitung: Im Jahr 1987 erfolgte ein Beschluss der Klinikleitung, eine Gedenkplatte für die Opfer anzubringen, was von der SED-Kreisleitung mit der Begründung abgelehnt wurde, es gäbe "schon genug Denkmäler". Eine weitere aktive Aufarbeitung erfolgte dann erst wieder Ende der 90er Jahre. Darauf hin wurde eine Stele des Katzower Stahl-Bildhauers Ratzow angebracht. Widerstände und Kritik gab es von verschiedenen Ärzte-Kollegen, die mit einzelnen Sätzen zitiert wurden ("Ist das noch nötig" usw.).

Im Epilog verwies Freyberger auf folgende Fakten: Es gab in Stralsund
- eine weitgehende personelle Kontinuität
- eine sehr späte Entschädigung
- aus früheren Tätern wurden Gutachter
- eine lange Verdrängung von Traumaschäden
- eine zweite Verfolgung der Verfolgten durch die Stasi
Insgesamt wissen wir noch zu wenig über die Täter sowie über die Bespitzelung von Ärzten in der DDR-Diktatur.

In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass
- die Zwangssterilisation wohl meist ohne Betäubung erfolgte
- dass es im Vorfeld der T4-Aktion eine Konferenz der leitenden Psychiater in Berlin gegeben habe, auf der sich die Mehrheit für die Maßnahmen entschieden haben (nur 1 Gegenstimme).
- ein Grund für die geringe Opposition war, dass viele jüdische Ärzte und psychoanalytisch geprägte Ärzte nicht mehr tätig bzw. emigriert waren.

In Stralsund hat es fast eine vollständige Vernichtung der Anstaltspatienten gegeben. Von ca 1300 Patienten überlebten nur etwa 100 Patienten. - Inzwischen ist ein Buch über die Aufarbeitung der NS-Zeit in Stralsund erschienen.

Henrik Eberle (Halle): Die Kampfstoffforschung der Greifswalder Professoren im Nationalsozialismus

Bei der Kampfstoffforschung spielte das Material Lost eine große Rolle. Lost ist eine Flüssigkeit zur Herstellung von Kampfstoffen gewesen. Wichtige Forschungen dazu wurden u.a. von Gerhard Jander (1933-35) durchgeführt. Bei den Forschungen scheint es keine direkte Zusammenarbeit von Chemikern und Ärzten gegeben zu haben. Schon im 1.Weltkrieg wurde dazu geforscht, u.a. mit Hautschädigungen und ihrer Heilung. Bei den Versuchen ging es auch um Gegenmittel, falls die eigene Bevölkerung betroffen ist. - In Greifswald war ab 1940 u.a. Otto Wels tätig, der Versuche mit Studenten durchführte. Dies war freiwillig; die Studenten erhielten dafür 10- 30 RM. Ein anderer Arzt führte Fleckfieberversuche mit russischen Kriegsgefangenen durch.

Nach dem Krieg führte die Staatsanwaltschaft Mecklenburg kaum Ermittlungen oder Überprüfungen durch. - Ein besonderes Problem gab es für die russischen Kriegsgefangenen, die erst Opfer der Deutschen wurden und nach dem Krieg von den Russen als Kollaborateure behandelt wurden.

 

2. Tag: Samstag, der 27. April 2013 (Tagungsort: Klinikumskirche Krankenhaus West, Stralsund)

Vorstellungsrunde:
Die ca. 60 teilnehmenden Personen stellten sich vor, darunter Mitarbeiter aus Gedenkstätten, Ärzte, Historiker und andere Interessierte. Erstmals waren Gehörlose vertreten, so dass die Beiträge jeweils in Gebärdensprache übersetzt wurden.

Moderation: Uta George (Hadamar)

Gerrit Hohendorf (München): Allgemeine Infos zum Arbeitskreis
1. Neue Webseite des AK
2. Waldniel-Hostert
3. Zur Herbsttagung des AK

zu 1: Der Arbeitskreis hat eine neue Webseite, die allerdings erst in den Anfängen ist. Sie wird von Stefan Raueiser (Irsee) und Harald Jenner (Berlin) bearbeitet. Die Webadresse ist
www.ak-ns-euthanasie.de . Es besteht das Problem, dass sie nicht leicht zu finden ist, da sie noch von der alten Webseite überlagert wird. Man muss daher den Webnamen direkt eingeben.

zu 2: Für das Gelände in Waldniel-Hostert (Rheinland), auf dem es früher eine der größten Kinderfachabteilungen gab (hier wurden ca 120 Kinder getötet), liegt noch kein neues überzeugendes Nutzungskonzept vor. Der AK bleibt hier am Ball; es bestehen gute Aussichten in Hinblick auf eine Gedenkstätte, da sich inzwischen auch die Politik bewege. - Bei der Frühjahrstagung 2012) in Mönchengladbach hatte der Arbeitskreis einen Ausflug dorthin gemacht. Inzwischen ist der Tagungsband dazu neu erschienen.
In den Medien wurde bisher kaum darüber berichtet; insbesondere der WDR hatte es abgelehnt. Gerrit Hohendorf äußerte dazu die markanten Worte: "Man sei eben nicht Götz Aly, der auch für ein solch schwieriges Thema wie Euthanasie eine große Medienaufmerksamkeit findet."

zu 3: Die Herbsttagung des Arbeitskreises wird vom 15.-17. Nov. in München stattfinden.
- Ein Hauptthema wird sein, wie weit die Namen der Euthanasieopfer auch in Büchern veröffentlicht werden können (in Stuttgart ist das erlaubt, in München nicht).
- Zweites Schwerpunktthema: Die dezentrale Euthanasie (Hungersterben usw.)
Die Tagung wird schon am Freitagvormittag mit einem Vortrag von einem Referenten aus Oxford beginnen.
Die weiteren Tagungen:
2014 - Frühjahrstagung: vom 4.-6. April in der Charité Berlin
2014 - Herbsttagung:      voraussichtlich in Posen (Polen)

Eckehard Kumbier (Universität Rostock): Zwangssterilisationen und "Euthanasie" in Mecklenburg - eine Bestandsaufnahme

I. Euthanasie
Trotz umfangreicher Forschungen zu dem Thema gibt es in Mecklenburg immer noch weiße Flecken; regional und lokal ist hier bisher kaum geforscht worden. - In Mecklenburg gab es 3 Anstalten (Sachsenberg/ Schwerin; Gehlsheim/ Rostock und Domjüch) sowie eine Kinderfachfachabteilung in Lewenberg (Schwerin). - Eine Zwischenanstalt war Uchtspringe, in der ca. 500 Personen durch Morphiumspritzen getötet wurden.
Nach dem Krieg fand am 16.8.1948 der Sachsenberg-Prozess statt, in dem es meist Freisprüche gab. In 3 Fällen erfolgten Todesurteile, die später in lebenslänglich umgewandelt wurden. Der Anstaltsleiter Dr.Alfred Leu wurde mehrfach angeklagt, wurde aber immer wieder freigesprochen.

II. Zwangssterilisationen
Literatur zu dem Thema gab es in Mecklenburg-Vorpommern erst ab 1998. Ein wichtiges Projekt war die Untersuchung der Beteiligung der Universitätsklinik in Bezug auf die Anstalt Rostock- Gehlsheim. Insgesamt sind zu dem Thema Zwangssterilisation ca. 11 000 Akten zu untersuchen.
In Mecklenburg gab es damals 12 Gesundheitsämter, die jeweils einen Amtsarzt hatten. Außerdem bestanden 4 Erbgesundheitsgerichte (Rostock, Schwerin, Güstrow, Neustrelitz). Wurde ein Beschluss zur Zwangssterilisation gefasst, musste die Operation innerhalb von 2 Wochen erfolgen. Insgesamt wurden ca. 5 000 Personen zwangssterilisiert; der Höhepunkt lag in den Jahren 1935- 37.

III. Domjüch: Über die Anstalt in Domjüch weiß man vergleichsweise wenig. Nach dem Krieg wurde die Anstalt als Kaserne von der Roten Armee benutzt; heute steht sie leer. Die meisten Unterlagen waren wohl vor Kriegsende vernichtet worden. Jedenfalls gibt es heute kaum Akten, die Informationen geben könnten.

Jan Armbruster (Stralsund): "Euthanasie" und Zwangssterilisation in Pommern
In Pommern gab es in der NS-Zeit 6 Anstalten:
Greifswald, Kückenmühle/ Stettin, Ueckermünde, Lauenburg, Treptow an der Rega, Stralsund.
Der Forschungsstand zu den einzelnen Einrichtungen ist sehr unterschiedlich:
In Stralsund gab es 652 Operationen. Es gab zahlreiche Widersprüche dagegen, die wenig erfolgreich waren. - Zu Stettin gibt es Literatur erst ab 1995 (insbesondere von Volker Rieß) -
Zu Lauenburg liegen keine Arbeiten vor. - Zu Treptow an der Rega ist bisher eine Dokumentation erschienen.
In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass auch die polnische Forschung und Literatur stärker berücksichtigt werden müsste, da mehrere der Anstalten auf heutigem polnischen Gebiet liegen.
Für Pommern insgesamt war der Gauleiter Franz Schwede-Coburg wichtig. Sein Leitspruch zur Selektion war, die "übelsten Kranken auszusortieren". Es gab Anstalten, die eher bereit waren zu töten als andere. Interessant ist z.B. die Rolle des Pastors Stein in Kückenmühle, der sich gegen Selektionen wandte. Er verließ 1940 als Leiter die Anstalt und suchte sich eine neue Einrichtung.
Eine wichtige Rolle für Pommern spielte die Anstalt Meseritz-Obrawalde. Ihr späterer Leiter war ein ehemaliger Sparkassenleiter, der eine hohe Bereitschaft zum Töten zeigte. Für viele Gauleiter und Anstaltsleiter ging es bei den Tötungen auch um Pflegegelder.

Kathleen Haack (Rostock): Kinderpsychiatrie im Nationalsozialismus zwischen Fürsorge und Aussonderung
(da die Referentin erkrankt war, wurde ihr Vortrag von Eckehard Kumbier vorgetragen)

Im Kern des Vortrages stand die Feststellung, dass es im Nationalsozialismus nicht um das Wohl des einzelnen Notleidenden ging, sondern um das Wohl der Volksgemeinschaft. Nicht die Hilfsbedürftigkeit, sondern nur der Nutzen für die Volksgemeinschaft war von Bedeutung. Auch der Grad von Bedürftigkeit spielte keine Rolle.
Dies wurde insbesondere in zwei aktuellen Projekten untersucht: die "Uchtspringer Kinder" sowie der "Michaelshof" bei Rostock. Dabei wurde deutlich, dass es für die Kinder bzw. die Patienten immer dann gefährlich, wenn Mediziner oder Psychiater ins Spiel kamen.
An einem weiteren Beispiel eines 10jährigen Jungen aus Görlitz wurde das näher untersucht. Er kam schließlich in die Jugendfachabteilung nach Loben (Schlesien) und wurde dort getötet. Die dortige Leiterin Elisabeth Hecker ging insgesamt rigoros vor und sortierte streng nach den verschiedenen Kriterien aus.
Die Untersuchungen der Jugendlichen waren meist sehr schmerzhaft, u.a. wurde ihnen dabei Luft eingespritzt. Die Art dieser Untersuchungen gab es noch bis in die 60iger Jahre.
Elisabeth Hecker bekam nach dem Krieg verschiedene Auszeichnungen, die ihr aber wieder aberkannt wurden, als ihre Handlungsweisen in Loben später bekannt wurden.

Susanna Misgajski  (Prora): Rügen und Stralsund zur Zeit des Nationalsozialismus - Beispiele der NS- Sozial- und Gesundheitspolitik
Da der Gauleiter Schwede- Coburg für die Region Pommern von großer Bedeutung war, gab Susanna Misgajski zunächst einige biographische Hinweise zu dieser äußerst brutalen und radikalen Person.
Schwede war 1922 schon Gründungsmitglied der NSDAP gewesen. 1930 wurde er in Coburg Bürgermeister und erhielt daher später den Namen Coburg als Zusatz. Bei Kriegsende verhinderte er die Flucht der Zivilbevölkerung; er selber floh nach Schleswig- Holstein. Nach dem Krieg wurde er verurteilt, 1956 dann aus der Haft entlassen. Sein Sohn, 1943 geboren, ist heute NPD-Mitglied.
Das KDF-Bad Prora: Der Grundstein wurde am 2.Mai 1936 gelegt. Es blieb unvollendet und ging nicht in Betrieb. Die Baufirma wurde nach Kriegsbeginn zuerst nach Peenemünde und dann zum Bau des Westwalls abgezogen. - HJ und BDM statteten aber immer wieder Besuche in Prora ab. - Nicht alle Personen wurden zum KDF zugelassen; z.T. waren sogar Erholungsbedürftige ausgeschlossen. Sehr beliebt waren die KDF-Schiffe. Die Kosten trugen pro Person 50 RM. Eine Unterkunft in Prora hätte etwa 20 RM gekostet.
Auf Rügen gab es im weiteren eine Thing-Stätte, die heute als Freilichtbühne benutzt wird, sowie eine Napola-Schule. - Im Kurort Binz besaßen Juden ein Kurhaus, die später enteignet wurden. - In Stralsund (in der Altstadt) hatte es eine Synagoge gegeben, die aber zerstört wurde. Seitdem gibt es keine jüdische Gemeinde mehr in der Stadt.

Petra Bensaid (Theaterwerkstatt Göttingen): "Fridas Weg" - Vorstellung eines Theaterprojektes
"Fridas Weg" ist ein Theaterstück, das die Themen Inklusion und Kindereuthanasie behandelt. In der Diskussion wurde das Stück durchaus kritisiert. Zum einen, weil alle drei Schauspieler nichtbehinderte Personen sind. Auch die Darstellung des "Euthanasie"-Arztes wurde kritisiert. Entgegen der Darstellung im Theaterstück gäbe es keinen "Euthanasie"-Arzt, der je Reue gezeigt hätte. Und unter den T4-Gutachtern hätte es eine hohe Selbstmordquote gegeben. Von den 40 Gutachtern hätten 7-9 Personen Selbstmord begangen.

Führung durch das Klinikgelände
Anschließend fand eine Führung über das Gelände des Klinikums West statt. Im Mittelpunkt stand die Besichtigung eines Denkmals für die ermordeten Patienten der Einrichtung sowie eine Führung durch die Ausstellung "Erlebt- Verdrängt- Erinnert" im Kulturhaus des Klinikums.

 

3. Tag: Sonntag, der 28. April 2013 (Tagungsort: Klinikumskirche Krankenhaus West, Stralsund)

Gerrit Hohendorf (München), Annette Hinz-Wessels (Berlin), Petra Fuchs (Berlin), Maike Rotzoll (Heidelberg): Erinnern heißt gedenken und informieren. Die nationalsozialistische "Euthanasie" und der historische Ort Berliner Tiergartenstraße 4 - Ein Erkenntnis- Transferprojekt
Seit 1989 gibt es eine Gedenkplatte an der Tiergartenstraße 4. Sie trägt die Aufschrift "Ehre den vergessenen Opfern". Es kam damals die Anmerkung, dass die Opfern jedoch immer noch nicht in der Mitte des gesellschaftlichen Gedenkens angekommen sind. Daher gab es die Anregung, dass dort ein Gedenk- und Informationsort entstehen sollte. Der Bundestag fasste dazu einen Beschluss, allerdings wurde nicht diese Bezeichnung gewählt. Dort hieß es nur "Gedenkort".

Zur Vorgeschichte des T4-Denkmals (Gerrit Hohendorf):
- Es begann 2007 mit einer Initiative des Runden Tisches von Sigrid Falkenstein
- Am 20.1.2009 fand dazu ein Symposium im Gropius-Bau (Berlin) statt
- Es folgten zwei Appelle des Arbeitskreises zur Erforschung der "NS-'Euthanasie'" am
   14.6.2010 und 8.12.2010
- Am 10.11.2011 gab es den Beschluss des Dt.Bundestages hinsichtlich eines Gedenkortes für
   die Opfer der NS-"Euthanasie" (500 000 € Realisierungssumme, kein Gebäude, möglichst
   keine Folgekosten).

Petra Fuchs erläutert die Ausschreibung für ein Denkmal:
- Auslober war das Land Berlin
- die Ausschreibung erfolgte im Mai 2012 (es sollte ein künstlerischer Entwurf werden)
- 92 Bewerbungen wurden eingereicht; 30 davon sollten Entwürfe einreichen
- es gab 24 Sachverständige (ohne Stimmrecht)
- 7 Entwürfe kamen in die engere Wahl
- schließlich wurde der Siegerentwurf ausgewählt (die hellblaue, transparente Glaswand)

Zur Ausgestaltung des Denkmals (G.Hohendorf):
- Es soll 4 Ebenen der historischen Information geben
- dazu ein Katalog in deutscher, englischer und leichter Sprache
- Prolog, Epilog und 10 Themenkapitel
- Themenkapitel: 1. Vorgeschichte, 2. Zwangssterilisation, 3. Aktion T4, 4. Kindereuthanasie,
   5. Dezentrale Krankenmorde (Erweiterung der Opfergruppe), 6. Euthanasie-Holocaust,
   7. die Opfer, 8. die Gesellschaft (Angehörige, Kirchen usw.), 9. die Täter, 10. die Zeit nach
   1945.

Zur Umsetzung der Tafeln (Maike Rotzoll)
- Am kommenden Wochenende soll es einen Workshop dazu geben. Thema des Workshops:
   Wie die (Themen-) Tafeln inhaltlich gestaltet werden sollen.
- Folgende Aspekte sind dabei wichtig: Topographie, Narration, Täter- Opfer- Gesellschaft,
   Aktualität, Barrierefreiheit
- Bezüglich der Opfer ist insbesondere folgendes zu beachten: Namensnennung, Ego-
   Dokumente, Porträt- Fotographien
- Zu berücksichtigen ist, dass das gesamte Kulturforum umgebaut wird
- Die Entwürfe sollten bis August vorliegen; im November wird dann entschieden. Es ist also
   nicht viel Zeit zur Verfügung

 

Robert Parzer (Berlin): Neuere Forschungsergebnisse zur T4-Villa
Im Jahr 1875 baute der Mäzen Leisbach auf dem Grundstück eine Villa, die 1903 Georg Liebermann erwarb. Er ließ die Villa umbauen. Seine Ehefrau wollte jedoch nicht in der Villa wohnen, da sie zu luxuriös sei. So wurde sie gewerblich benutzt.

Ab Ende 1934/ Anfang 1935 mietete die NSDAP die Villa. Der Besitzer Hans Liebermann beging 1938 Selbstmord, um dem KZ zu entgehen. Am 5.10.1940 erfolgte der Verkauf der Villa (für 401 000 RM) an das Oberkommando des Heeres. Schon vorher war im Mai 1940 die T4 eingezogen.

Ab 1943 wurden immer mehr Personen und Abteilungen, die dort tätig waren, an andere Orte verlegt. - 1943 wurde das Haus von einer Bombe getroffen. Die weitgehende Zerstörung erfolgte aber erst durch den Einmarsch der Roten Armee. - Nach dem Krieg wurde 1950 die Fassade gesprengt, das Gelände wurde eingeebnet. Eine Rückerstattung gab es 1950 an die frühere Besitzerin Clara Liebermann.

Über die Zeit der T4 gibt es in dem Haus wenig Informationen. Man weiß nicht, wer bzw. welche Abteilung in welchem Zimmer war. Insgesamt hatte es dort 42 Büros gegeben. - Im Grunde war es eine Tarnorganisation für Verbrechen an Behinderten und psychisch Kranken.

Boris Böhm (Gedenkstätte Pirna- Sonnenstein): Ein Paul Goesch für Pirna - Die Geschichte einer Wiederentdeckung
Paul Goesch war ein psychisch kranker Maler, der in den 20iger Jahren verschiedene Ausstellungen machte. Er hatte eine psychische Krise gehabt, später wurde Schizophrenie diagnostiziert. In der NS-Zeit war er stigmatisiert gewesen. Teile seiner Sammlungen kamen in die Prinzhorn-Sammlung. In einem Haus in Sachsen ist eine Wandzeichnung wiederentdeckt worden, die übermalt war und jetzt wieder freigelegt wurde. Es handelt sich um die Wandzeichnung "Die Tänzerin", die in Zukunft in der Gedenkstätte Pirna ausgestellt werden soll.

Lothar Pelz (Rostock): Rostocker Kinder und die Geißel der NS-Euthanasie
In seinem Vortrag ging Lothar Pelz u.a. auf die Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg in Schwerin ein. Er berichtete insbesondere über die dortige Kinderfachabteilung unter Dr. Alfred Leu. Unter seiner Leitung sind zwischen 1941- April 1945 mindestens 100 Kinder dort ermordet worden, meist durch eine Überdosierung von Veronal, Luminal oder Morphium im Essen oder durch eine Injektion.

Frank Häßler (Rostock): Die Arbeit der Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP) in der NS-Zeit
Prof. Dr. med habil. Frank Häßler ist Past Präsident der DGKJP. In einem sehr eindrucksvollen Vortrag wies er darauf hin, dass die NS-Zeit bisher nur wenig von der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt wurde. Anlässlich des XXXIII. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), das vom 6.- 9.03.2013 in Rostock stattfand, wurde ein "Memorandum" herausgebracht, das auf diese Fragen einging. Daraus im folgenden einige Auszüge, da die Fragen der Aufarbeitung dort sehr grundsätzlich behandelt wurden (das Memorandum selber wurde auf der Tagung des Arbeitskreises verteilt).

 

"Auch wenn sich die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychomotorik und Psychotherapie in gleicher Weise den zahlreichen Opfern gegenüber verantwortlich fühlt, ist der Person der Aufarbeitung und Differenzierung bezüglich der Verstrickungen von Personen und der Vorläuferorganisationen, der 1940 gegründeten 'Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik', noch nicht so weit fortgeschritten. Immerhin hat sich die 'Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie' seit 1993 immer wieder diesem Thema gewidmet, 2001 und 2009 sogar Sonderhefte dazu herausgegeben. Kritische Auseinandersetzungen finden sich auch bei Castell, Aumüller und Holtkamp.

Diese Beilage (gemeint ist das 'Memorandum'; U.D.) fasst nicht nur diese Ergebnisse einer langjährigen kritischen Auseinandersetzung des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e.V. (BKJPP), der Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (BAG) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) mit erzwungener Emigration, als Forschung deklarierten Menschenversuchen, der Zwangssterilisation und der Tötung von mehr als 5000 Kindern zusammen,  sondern stellt auch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse und die Perspektive der Opfer und ihrer Angehörigen vor.

Da es bisher weder eine systematische wissenschaftliche Aufarbeitung der Verwicklungen der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie und ihrer Vertreter noch ein durch alle drei Fachverbände getragenes öffentliches Bekennen zur Verantwortung gab, ist es 70 Jahre nach den Gräueltaten an der Zeit, dieses im Gedenken an die Opfer zu tun. Das vorliegende Sonderheft ist somit nicht der Abschluss der Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel der Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie, sondern der Auftakt für die im Frühjahr 2012 gegründete Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte. Dieser Kommission gehören neben Vertretern der drei Fachverbände auch eine Historikerin und der Leiter des Geschichtsreferates der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde an.
(...)
Der geschichtliche Exkurs soll uns mahnen, sensibilisieren und immunisieren gegenüber aktuellen Entwicklungen der Gesundheitsökonomisierung, der Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderungen und der in wissenschaftlichen Fachkreisen wieder befürwortend diskutierten Euthanasie. (...) Opfer waren und sind immer die (vermeintlich) Schwächeren, Kinder, Kranke und Behinderte. Uns unsere besondere Verantwortung aus der Vergangenheit bewusst machend, gehört diesen 'Schwächeren' unsere ungeteilte Aufmerksamkeit, Hilfe und Fürsorge."
                                                                               Prof. Dr. med. habil. Frank Häßler, Rostock
                                                                                                          Past Präsident der DGKJP

(aus: Memorandum anlässlich des XXXIII. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) vom 6.-9.März 2013 in Rostock -  Kinder- und Jugendpsychiatrie im Nationalsozialismus/ Erinnerung, Verantwortung und Mahnung)

Abschließende Bemerkung: Die Herbsttagung des Arbeitskreises zur Erforschung der NS-"Euthanasie" und Zwangssterilisation findet vom 15.- 17.11.2013 in München statt.

Udo Dittmann (Sept. 2013)

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