Bericht von der Veranstaltung

"NS-Prozesse: Warum erst jetzt, warum jetzt noch?"
am Do, 14.11.2013, 18.15 Uhr
in der Goethe- Universität Frankfurt, Campus Westend,
          Grüneburgplatz 1, Casino am IG-Farben Haus, Raum 823

Podiumsdiskussion mit:
- Prof.Dr. Cornelius Nestler (Universität Köln)
- Thomas Walther (Wangen, Allgäu)
- Dr. Annette Weinke (Schiller- Universität Jena)
Moderation: Sabine Mieder (Hessischer Rundfunk)

Eine Veranstaltung des Fördervereins des Fritz Bauer Institutes

Jutta Ebeling (Vorsitzende des Fördervereins) eröffnete die Veranstaltung. Sie wies auf die drei Säulen des Fritz Bauer Institutes hin; diese seien die Stadt Frankfurt, das Land Hessen und der Fördervereins des Instituts.- Aufgabe des Instituts sei es, den Zivilisationsbruch in der NS-Zeit deutlich zu machen.

Thomas Walther
Thomas Walther hatte den Demjanjuk-Prozess in Gang gesetzt. Er beschrieb, wie es dazu kam.
- Im September 2006 erfolgte seine Abordnung nach Ludwigsburg (zur Zentralen Stelle).
  Dort erfolgte für ihn eine gewisse Ernüchterung. "Rechnen Sie nicht damit, dass noch etwas
  in Gang kommt", hörte er dort. Hinzu kam eine starre Auslegung der BGH-Urteile: "Das
  haben wir schon immer so gemacht..." Die Zeichen für Veränderungen standen also
  denkbar schlecht.

- Im November 2006 erfuhr er von dem Fall Rinkel, die Hundeführerin in Ravensbrück
   gewesen war. Ein Jahr lang suchte er nach einer konkreten Tat.
- Im Dezember 2006 erfolgte ein Telefonat mit Eli Rosenbaum in den USA (vom OSI -
   Office of Special Investigations des US-Justizministeriums). Es ging um die Abschiebung
   von Elfriede Rinkel aus den USA. Wegen der problematischen Umstände setzte für
   Walther eine Schamphase über mehrere Monate ein, die er als "Fremdschämen"
   bezeichnete. Im Zentrum stand dabei für ihn die Frage, wie Deutschland mit abgeschobenen
   Leuten umging.
- Im Oktober 2007 erfuhr Walther durch Googeln von der Entscheidung des US-Richter
  Matia zu Demjanjuk, die zeigte, dass eigentlich alle Beweise schon gegen Demjanjuk
  vorliegen.
- Im März 2008 begann er mit den Ermittlungen gegen Demjanjuk. Dieser war 1993 bei
  einem Prozess in Israel noch freigesprochen worden.
- Im November 2008 erfolgte der Schlussbericht an die StA München.

- Im Mai 2011 kam es zur Verurteilung von Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an geschätzten 28.060 Menschen zu fünf Jahren Haft. Das Urteil gegen Demjanjuk wurde nicht rechtskräftig, da sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung Revision gegen dieses Urteil eingelegt hatten. Zu einer Revisionsverhandlung kam es bis zu Demjanjuks Tod jedoch nicht mehr.
Inzwischen gibt es über 30 weitere Verfahren gegen NS-Täter.

Prof. Dr. Cornelius Nestler
Er ist Ordinarius für Strafrecht an der Universität zu Köln und war in dem Strafprozess gegen John Demjanjuk Vertreter von Nebenklägern
Der Nebenklägervertreter, Cornelius Nestler, Ordinarius für Strafrecht an der Universität zu Köln, teilte im November 2009 vor Prozessbeginn mit, dass mindestens 35 Nebenkläger zugelassen würden, mehr als im ersten deutschen Auschwitzprozess 1963–1965 in Frankfurt am Main. Vier der zugelassenen Nebenkläger waren Überlebende des Vernichtungslagers Sobibor, andere Angehörige von Opfern. (aus: wikipedia/  Demjanjuk)

Für die Gerichte in Deutschland war die Sache bei den NS-Prozessen relativ klar und leicht - es gab für sie meist nur die Haupttäter Hitler, Himmler und Heydrich.
Nestler selber wollte im weiteren differenzierter vorgehen. Ein Ansatzpunkt für ihn war dabei der Aufsatz "Mord ist die Summe aller Teile" von Ronen Steinke in der SZ vom 1.Juni 2013. Steinke hatte das Buch "Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht" geschrieben, das Nestler zunächst lobend erwähnte. Dann ging er auf den Zeitungsartikel ein, und zwar auf den letzten Satz, der lautete: "Die juristische Idee, die Generalstaatsanwalt 1963 in die Welt setzte, wartet noch immer auf ihren Durchbruch." Genau diesen Satz müsse er aber kritisieren. -

Die Idee von Bauer war damals, dass "alle Tatbeteiligten auch Täter" sind. Es gehe jetzt nicht durch den Demjanjuk-Prozess darum, dass diese Idee wieder zum Durchbruch käme, sondern diese Idee hätte es schon in fast allen anderen NS-Prozessen auch gegeben. Im Grunde genommen sei ausgerechnet der Auschwitz-Prozess in dieser Hinsicht eine Ausnahme gewesen. Nestler führte das im folgenden weiter aus.

Der Vorsitzende Richter Hofmeyer hätte den Prozess aufgeschlüsselt und jeweils nach den konkreten Einzeltaten gesucht. - Nestler sah dafür folgende Erklärung: Fritz Bauer hatte sich im Auschwitz-Prozess sehr dominant eingebracht, durch viele Kommentare, Statements und Aufsätze und dadurch große mediale Aufmerksamkeit erzielt. Bekannt war auch Bauers Ausspruch: "Die Deutschen sollen lernen, wie man sich zu benehmen hat."
Richter Hofmeyer habe vielleicht darauf verärgert bzw. allergisch reagiert und so in Opposition zu Bauer das Verfahren in seine Einzelfälle aufgegliedert.

So fiele der Auschwitz-Prozess in dieser Hinsicht aus dem Rahmen, während in fast allen NS-Prozessen der Gesamtzusammenhang eine Rolle spiele. Beim Auschwitz-Prozess stände dagegen die Einzeltat im Vordergrund:

  LG Frankfurt 8/ 1965 (Auschwitz -Mulka u.a.)
   Zur Tat:
   - Einzeltaten/ einzelne Transporte
   - "das Verbrechen des Massenmordes gibt es nicht"
   Zur Beihilfe:
  - "Konkrete Tatbeiträge zu einer Einzeltat"

Konsequenzen für Mulka
- Anklage:  Stellvertretender Kommandant ist für alle geplanten Morde verantwortlich
- Gericht:   vier Taten - dreimal Nachricht über Ankunft eines Transportes weitergegeben;
                                    - einmal Bestellung von Zyklon B

Die zentrale Aussage im Urteil des LG Frankfurt zu Mulka u.a. war:
"Die einzelnen Vernichtungsaktionen erfolgten jeweils durch besondere Willensbetätigungen der zum Rampendienst eingeteilten SS-Angehörigen und insbesondere der mit dem Einwerfen des Zyklon B beauftragten SS-Männer."

Nestler leitete 3 Thesen in Hinblick auf die NS-Prozesse ab:

1. die offizielle (Ludwigsburg) und verbreitete (Medien) These von individueller Tatschuld (konkreter      
     Tatnachweis) ist falsch
2. die Rechtspraxis war: Gegen die Kleinen wollte die Staatsanwaltschaften nicht vorgehen
     (Beispiel: Samuel Kunz /Belsec - Fahrbereitschaft in Auschwitz/ Einstellung wegen geringer Schuld)
3.  Zur Rechtslage: LG Frankfurt/ Auschwitz war eine Ausnahme in der ständigen Rechtsprechung
                               - es gab keine bindenden Vorgaben des BGH

Die Rechtsprechung (mit der individuellen Tatbeteiligung) ist nur in einem späteren NS-Prozess aufgegriffen worden, und zwar in dem Urteil von Bielefeld (1989). In den anderen Prozessen zeigte sich eher eine Kontinuität der Rechtsprechung, die von dem "Gesamtzusammenhang" ausging. - Das Überraschende ist, dass diese Urteile auch durch das BGH bestätigt wurden. Das wirft auch ein Licht auf das BGH, das folgende Aussagen zulässt:

- Das BGH als "das BGH" gibt es nicht. Es kommt auf den jeweiligen Senat an, wie die Rechtsprechung erfolgt. - Das BGH besteht insgesamt aus 5 Senaten, die teilweise sehr unterschiedlich entschieden haben. - Insgesamt habe das BGH keine Rechtsvorgaben zur Durchführung von NS-Prozessen gegeben. Im allgemeinen haben die einzelnen Senate die jeweilige Rechtsprechung der einzelnen Gerichte bestätigt, auch wenn diese unterschiedlich gewesen sind. Nestler drückte aus, dass "das BGH immer alles durchlaufen ließ". Jede Nichtbestätigung hätte für Aufsehen gesorgt.

Urteile, die jeweils vom "Gesamtzusammenhang", d.h. nicht von der "individuellen Tatbeteiligung" ausgehen, sind z.B. folgende:

LG Bonn              1965     Kulmhof
LG München       1965      Belsec/(bestätigt durch BGH (1), 1965
LG Düsseldorf     1965      Treblinka /bestätigt durch BGH (3), 1970
LG Kiel                1965      Kulmhof
LG Hagen            1966      Sobibor /bestätigt durch BGH (4), 1971
LG Düsseldorf     1970      Treblinka
LG Frankfurt       1977      Sobibor
LG Düsseldorf     1981      Majdanek
LG Hagen            1985      Sobibor /(bestätigt durch BGH (4), 1987

Wie schon ausgedrückt, ist das Urteil in Bielefeld (1989) eine Ausnahme, das wie im Auschwitz-Prozess von der individuellen Tatbeteiligung ausgeht. Insofern wird in den meisten Fällen die Rechtsprechung im Sinne Bauers ("Gesamtzusammenhang") vom BGH bzw. von verschiedenen Senaten des BGHs bestätigt.

Dazu Beispiele:
LG Bonn (Kulmhof/ 1963): Anklage wegen Beihilfe
                                   - Gaswagenführer
                                   - Wachmann an verschiedenen Orten
                                   - Ausführender von Baumaßnahmen und Reiniger von Gaswagen
                                   - Diverse "Täuschungshandlungen" gegenüber Opfern
LG Hagen (Sobibor/ 1966)
                                   - Lohnbuchhaltung

Die Zustimmung zum Kulmhof-Urteil erfolgte durch den 2.Senat des BGH (1964): Dort heißt es: "Alleine die Zugehörigkeit an dem Sonderkommando ist Beihilfe. In diesem Fall hat die konkrete Tat keine Bedeutung."

Das LG Bonn (1963) hatte im Kulmhof-Prozess folgendes ausgedrückt (Nestler):
      Zur Tat
Die Massentötungen sind eine Tat, die auf einem Befehl der Haupttäter beruht. Grundsätzliche  Anordnung zur Vernichtung jüdischer Menschen.
Die einzelnen auf diese eine Willensbetätigung zurückgehenden und von den Angehörigen des Sonderkommandos durchgeführten Tötungen sind rechtlich eine Handlung.

Für Frankfurt war der 2.Senat zuständig. Dieser bestätigte 1969 das Urteil gegen Mulka, das der Sichtweise von Bauer entgegenstand. Hier wurde nur die individuelle Tat berücksichtigt.

 

Dr. Annette Weinke
Sie ist wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Friedrich Schiller Universität Jena.
Sie wies darauf hin, dass 1969 das Verfahren gegen das RSHA geplatzt sei. - Das habe eine Vorgeschichte gehabt. In Deutschland sei lange nichts passiert. Auch 1958 habe es noch keinen Konsens zu der Aufarbeitung der NS-Verbrechen gegeben. Ludwigsburg sei nur eine "Vorermittlungsbehörde" gewesen. Im allgemeinen habe es zwar große politische Erwartungen gegeben. In der Praxis sei man aber nach dem Prinzip der "Justizökonomie" verfahren. Dabei habe man sich auf die Exzessivtäter konzentriert. Eine besondere Rolle spielten dabei die historischen Zufälle (Auschwitz-Prozess, Eichmann u.a.), durch die einige Prozesse überhaupt erst entstanden seien.

Zur Diskussion
Herr Wiesemann: Er war von 1966-74 in Ludwigsburg tätig. Damals waren dort ca. 50 Richter und Staatsanwälte beschäftigt. Es hatte etwa 6000 NSG-Verfahren gegeben. Diese Verfahren, die jeweils abgegeben wurden, blieben dann oft bei den zuständigen Stellen liegen. Er wies darauf hin, dass ca. 90% aller Verurteilungen auf die Ermittlungen in Ludwigsburg zurückgehe.

U.Dittmann (Dez. 2013)

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