"Gerichtstag halten über uns selbst..."
"Bewältigung unserer Vergangenheit" heißt Gerichtstag halten über uns selbst; Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt alles, was hier inhuman war, woraus sich zugleich ein Bekenntnis zu wahrhaft menschlichen Werten in Vergangenheit und Gegenwart ergibt, wo immer sie gelehrt und verwirklicht wurden und werden. (Fritz Bauer, 9. Juli 1962)

 

Über das Buch "Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns" von Fritz Bauer

Selten habe ich eine Schrift gelesen, die mich so beeindruckt hat wie dies kleine Büchlein von Fritz Bauer. In nur 40 Seiten gibt er eine Analyse über faschistische und nationalsozialistische Strukturen und Hintergründe, wie ich es bisher kaum kennen gelernt oder gelesen habe. Und wie aufschlussreich ist dann die folgende Debatte im Landtag von Rheinland Pfalz, die in Auszügen in dem Buch wiedergegeben ist sowie eine abschließende Stellungnahme von Bauer am Ende des Buches.

Der Landesjugendring von Rheinland Pfalz hatte im Jahre 1962 empfohlen, dass das Buch auch an den Schulen dort verteilt werden könnte, was dann aber von der Landesregierung untersagt wurde. Ihre Begründung klingt wie eine kollektive Schuldabwehr, und ist ein Zeichen, wie in großen Teilen der Bevölkerung die Frage nach den Ursachen des Nationalsozialismus weg geschoben und verdrängt wurde. Ist es heute anders?

Nun, das Buch ist heute in Deutschland nicht mehr erhältlich, nicht einmal antiquarisch. Bei meinen Nachforschungen im Internet gab es nur noch zwei Exemplare bei einem Anbieter in Washington/ USA. So habe ich eben dieses kleine Büchlein in den USA bestellt und mir von dort schicken lassen. -. Sicherlich hätte ich es mir über eine Bibliothek ausleihen können. Ich wollte es aber gern selber besitzen, um damit auch immer wieder arbeiten zu können.

Weshalb ist dieses Buch in Deutschland nicht mehr erhältlich? Sagt das nicht auch etwas über das Land aus? Noch immer könnte es auch heute in Schulen gelesen werden, nicht nur in Rheinland Pfalz - und als interessante Diskussionsgrundlage dienen, um weiter zu forschen.

Bauer versucht hier, den Ursachen für den Faschismus und den Nationalsozialismus auf die Spur zu kommen, wobei er klar zwischen Faschismus und Nationalsozialismus unterscheidet. Der Faschismus war eine Diktatur mit einem Führersystem mit dem Fehlen jeglicher Opposition. Der Nationalsozialismus war mehr; er war nicht nur eine Diktatur mit einem Führersystem, sondern ein "Unrechtsstaat", d.h. "dass der Staat selbst, seine Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung ganz oder in wesentlichen Teilen kriminell geworden" war.

Wie konnte es sich so entwickeln?
Bauer betont, dass die Ursachen dieser Ereignisse, die dazu geführt haben, ohne Psychologie, Psychoanalyse und Soziologie, auch Kriminologie nicht geklärt werden könnten.

Bei manchen Betrachtungen Bauers muss man an die Forschungen Arno Gruens denken, wie er als Psychologe und Psychoanalytiker versucht, menschliches Handeln zu erklären. Wie ein Kriminologe und Psychologe versucht auch Bauer, sich manchen Personen der deutschen Geschichte zu nähern wie z.B. Friedrich dem Großen oder Bismarck. Das wird ihm von der Landesregierung vorgeworfen. Er betreibe keine "objektive" Geschichtsschreibung, sondern wähle ganz subjektiv aus.

Nur um eine "objektive" Geschichtsschreibung ging es Bauer aber gar nicht. Er fragt nach tieferen Ursachen und spürt ihnen wie ein Detektiv nach. Die Ursachen liegen für Bauer nicht nur in der Weimarer Republik, dem Versailler Vertrag oder der Weltwirtschaftskrise. Die Ursachen liegen für Bauer tiefer.

Bei seiner Analyse unterscheidet er zunächst die Staaten, in denen es autoritäre, faschistische Systeme gab wie Italien, Deutschland, Russland, Spanien und Portugal, und solche, in denen solche Strukturen nicht auftraten wie Skandinavien, Schweiz, England, Holland, USA. Wo liegen die Unterschiede, auch in der Geschichte?

Die Länder mit faschistischen Strukturen waren für ihn ehemalige Weltreiche, die den Anschluss an den modernen Imperialismus verlören hätten. Sie würden sich noch als Erben des römischen Cäsarentums fühlen (in Italien/ Deutschland der Bezug zu Westrom, in Moskau der Bezug zum Oströmischen Reich). In England sei dagegen die imperiale Idee nicht römisch gewesen, dort wurde weder das römische Recht  noch die römische Staatsverfassung übernommen. Man sei dort dem Erbe der alten "germanischen Demokratie" treu geblieben, wo Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung eine wichtige Rolle spielten.
Die alten römischen Ideale dagegen waren Autorität, Über- und Unterordnung, Ordnung schlechthin. - Gerade das wurde auch in Deutschland übernommen. So sei Deutschland das einzige Land in Westeuropa von Bedeutung gewesen, das sich in seiner späteren Entwicklung den demokratischen und liberalen Ideen verschloss. In Deutschland hatte es daher auch keine (erfolgreiche) Revolution gegeben.

Während das alte germanische Denken mit den Werten der Freiheit und Gleichberechtigung sich in England, Skandinavien und später auch in den USA auswirkten und in Ländern wie England, Schweiz und Holland auch vom Protestantismus übernommen wurde, war der deutsche Protestantismus von Luther dem Thron gehorsam, hier gab es das "Bündnis von Thron und Altar". Luther habe einen Bibeltext - unabhängig von dem, was in England und Frankreich geschah - mit den Worten übersetzt: "Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat; denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet; wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung." (Römer 13,1 ff.). Kommentar von Bauer: "Das ist die Weltanschauung und politische Sittenlehre, die man die Deutschen seit dem 16.Jahrhundert bis zum Nazismus gelehrt hat. Höchstens Gut der Erdenkinder ist die Obrigkeit. - Ganz ähnlich wie Luther dachten unsere Philosophen. Sie haben unser Schicksal bestimmt, auch wenn die meisten Leute weder Kant oder Hegel gelesen haben." (S.20)

Bauer skizziert nun die Entwicklung über Kant und Hegel sowie Friedrich dem Großen und Bismarck.

Gerade auch Friedrich der Große sei durch seine brutale Erziehung zum Menschenverächter und Hasser geworden, der nur seine Hunde liebte (bei Hitler sei es nicht anders gewesen, wie Bauer anmerkt). Und Bismarck hätte Leute ohne "Ar und Halm" verachtet und sich spöttisch geäußert, wenn er sich bei einer Feier neben eine Kaufmannsfrau setzen musste. Die Folge seiner Herrschaft in Deutschland sei ein "unpolitisches Spießertum" gewesen.

Die Landesregierung warf Bauer vor, er würde die deutsche Geschichte nur als eine sich "über Jahrhunderte erstreckende Krankheitsgeschichte" darstellen und würde damit junge Menschen verwirren, die auf Grund ihres Alters noch ein unreifes Denken hätten.

Bauer versucht aber letztlich nur, nach Ursachen zu forschen. Ihm geht es nicht um Geschichtsschreibung. Um das ist ihm in der Schrift - bei aller Kürze - hervorragend gelungen.

Schließlich muss er sich noch mit dem Vorwurf der "Vaterlandslosigkeit" auseinandersetzen, der ihm gemacht wurde. "Aber es bleibt die neugierige Frage, was in aller Welt unsereiner tun soll, um sich gegen den Vorwurf 'fast krankhafter Vaterlandslosigkeit' zu schützen?" Auch weiten Teilen der Jugend werde dies jetzt vorgeworfen. Was sollen sie tun? "Sollen sie hurra rufen? Fridericus-Rex-Filme drehen und sehen? Ländler tanzen? Auf Auslandsreisen und internationale Treffen verzichten? Deutsche Orangen essen?  ... SS-Mörder amnestieren? Die Wiedervereinigung mit anderen Mitteln als denen der Bundesregierung betreiben?"

Für Bauer lieben gesunde und sozial glückliche Menschen den Frieden. Hitler dagegen liebte den Krieg. Für Bauer war der Nazismus "der Aufstand der Minderwertigen, der Enttäuschten, der Neidischen". Das Herabsehen auf Juden, Polen, Russen, Zigeuner, Neger war ein Ausdruck von Schwäche, wie auch der Sündenbock-Mechanismus ein Ausdruck von Charakterschwäche gewesen sei. "Wirkliche Größe ist etwas ganz anderes; Größe meint Humanität und Toleranz; nur Kleinheit Dürftigkeit, Schwäche schreien nach Härte. Härte, Gewalt und Brutalität sind noch immer das Zeichen von Lebensschwäche, Lebensneid, Lebensangst gewesen; sie kennzeichnen den Mob." (S.37)

Das Referat über die Wurzeln des Nazismus hatte im Ausland wohl ein erstaunliches Echo gefunden. "Ohne jede Initiative von mir (Bauer) wurde es dort mehrfach wie ein Unterhaltungsroman in vielen Fortsetzungen von der Presse gebracht." (S.70)  Es wäre schön, wenn das Buch auch irgendwann einmal wieder in Deutschland erhältlich wäre - und vielleicht dann auch in Schulen gelesen werden könnte.

U. Dittmann (Nov. 2012)

Literatur:
Fritz Bauer: Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns. Europäische Verlagsanstalt. Frankfurt am Main. 1965.
Arno Gruen: Der Fremde in uns. München. 2005. 5.Auflage.

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