Neid und Missgunst als Motor des Antisemitismus

Zur Entstehung des aggressiven Antisemitismus in Deutschland im 19.Jahrhunndert

Anmerkungen zum Buch "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" von Götz Aly (2011) -
Träge Christen - rege Juden  und das Gift des Neides: die Vorgeschichte des Holocaust

Die zentrale Frage von Götz Aly ist, warum sich in Deutschland eine besonders aggressive Form des Antisemitismus entwickeln konnte, der schließlich zu Auschwitz und der weitgehenden Vernichtung der europäischen Juden geführt hat.

Antisemitismus hatte es in vielen anderen Ländern auch gegeben, insbesondere in Russland und Polen mit großen Pogromen, aber auch in Frankreich und anderen westlichen Ländern. Weshalb aber konnte sich in Deutschland eine besonders aggressive Form des Antisemitismus entwickeln?

Die Ursachen liegen für Götz Aly insbesondere im 19.Jahrhundert. Es war das Zeitalter der industriellen Revolution und großer gesellschaftlicher Veränderungen, mit denen Juden seiner Ansicht nach besser zurecht kamen als viele christliche Deutsche. - Schon die Hardenbergschen Reformen von 1810/11 setzten Unternehmergeist, Wettbewerb und Kapitalien in Bewegung. Für viele Christen bedeutete dies eher eine "Plage", während Juden in der neuen Gewerbefreiheit eine Chance zum wirtschaftlichen Aufbruch sahen. - Der Fortschrittsfreude der meisten Juden stand eine Fortschrittsscheu der meisten Christen gegenüber, einem jüdischen Unternehmergeist ein eher Untertanengeist christlicher Bürger.

Für viele Christen bedeutete Freiheit Unannehmlichkeit, Ungewissheit, Überforderung und Risiko. Es entwickelte sich die Forderung nach Gleichheit, die als "gemütliche Geborgenheit, Daseinsvorsorge, geringes individuelles Risiko" verstanden wurde. - Durch die gesellschaftlichen Veränderungen waren jetzt aber Fähigkeiten gefordert wie Neugier, Einfallsreichtum, Geistesgegenwart, Anpassungsgabe, soziale Intelligenz und insbesondere Bildung.

Gerade Bildung hatte bei Juden einen hohen Stellenwert, der einerseits mit der Religion zuammenhing sowie aus der jahrhundertealten  Rechtlosigkeit herrührte. Jüdische Kinder wurden schon früh alphabetisiert, wenn auch mit religiösen Inhalten und auf hebräisch. In christlichen Kreisen wurde dagegen lange Wert aufs Auswendiglernen gelegt, und der Satz "Lesen verdirbt die Augen" war oft der Ausdruck einer Bildungsfeindlichkeit.

In Preußen entwickelte sich so im 19. Jahrhundert eine unterschiedliche Bildungsgeschwindigkeit zwischen Juden und Christen (1):

Schulen:
1869 gab es einen Anteil von 14,8%  von Juden an Gymnasien (bei 4% der Bevölkerung) -
1886 hatten 46,5% der jüdischen Schüler einen höheren Schulabschluss als Hauptschule, im Gegensatz dazu 6,3% der christlichen Schüler. D.h. jüdische Schüler hatten 8x so häufig mittlere oder höhere Schulabschlüsse wie christliche Schüler. Das galt in gleicher Weise auch für jüdische Mädchen. Diese galten damals oft schon auch als "frech und frühreif".
1913/14 gab es Schuluntersuchungen in Wien:
Bei allen Tests lagen jüdische Schüler vorn, nur im Schönschreiben, Zeichnen und Turnen waren die christlichen Schüler besser.

 

Universitäten:
1886 gab es an Universitäten ca.10% jüdische Studenten (bei einem Bevölkerungsanteil von 1%). Auch im Alter der Studenten gab es Unterschiede zwischen Juden und Christen: Juden waren am jüngsten, dann kamen Protestanten, am ältesten waren jeweils Katholiken (die im Bildungsstreben oft hinten lagen).

Angaben zu weiteren Trends:
- Sozialer Aufstieg: Juden stiegen im 19.Jahrhundert überdurchschnittlich schnell auf der sozialen Leiter auf. 1808 hatten viele Juden meist mit nichts begonnen; 1834 gehörten schon 50% der Juden zur Mittelschicht und 13% zur oberen Mittelschicht.
- Säuglingssterblichkeit: Auch die Säuglingssterblichkeit war in jüdischen Familien wesentlich geringer als in christlichen Familien (bei jüdischen Familien 15, in christlichen Familien 21).
- Alterserwartung: Juden wurden im allgemeinen wesentlich älter als Christen. Ein Grund dafür ist eventuell übermäßiges Essen und mehr Alkohol bei Christen.
Darüberhinaus gab es zahlreiche weitere demographische Entwicklungen, in denen Juden der allgemeinen Entwicklung der christlichen Mehrheitsbevölkerung voraus waren (wie Zuzug in die Städte, geringere Kinderzahl usw.).

Antisemitismus am Anfang des 19.Jahrhunderts
Ein besonderes Ereignis war Anfang des 19. Jahrhunderts die Invasion Napoleons, die für einige deutsche Gebiete zu traumatischen Erfahrungen führte, darunter die enorm hohe Zahl an Zwangsrekrutierungen, die einen verheerenden Eindruck hinterließen. - Andererseits erließ Napoleon zahlreiche Gesetze, die Juden weitere Rechte brachten (die später nach Napoleons Niederlage meist wieder rückgängig gemacht wurden).

Als Reaktion auf die Unterdrückung durch Napoleon entstand ein neuer deutscher Nationalismus, der außer einer starken Feindschaft zu Frankreich auch judenfeindliche Züge trug. Eines der ersten Zentren einer intellektuellen Judenverachtung war die "Deutsche Tischgesellschaft" von 1811. Ziel war u.a. die Bewahrung des Alten in einer Epoche des Umbruches. Juden wurde hierbei ihr "neugieriges und neuerungssüchtiges Wesen" vorgeworfen. - Auch andere Nationalrevolutionäre in dieser Zeit wie Ernst Moritz Arndt, Friedrich Ludwig Jahn, Jakob Friedrich Fries und Hoffmann von Fallersleben wandten sich gegen Juden.

Ernst Moritz Arndt selber war als junger Mann gegen die Leibeigenschaft aufgetreten und hatte sich für eine Landkriegsordnung eingesetzt (die viele Jahre später in internationales Recht umgesetzt wurde). Heftig aber wandte er sich gegen Juden und sah im Weltbürgertum eine "Erniedrigung zum Judensinn". Götz Aly schreibt in einer etwas überspitzten, aber treffenden Weise weiter folgendes zu Arndt:
"Ausdrücklich wandte er sich 1847 gegen den von Liberalen vertretenen Gedanken, dass den Deutschen die soziale und eheliche Mischung mit Juden zum Vorteil gereiche. Wortreich schrieb er gegen die Verfechter der Humanität an, die behaupteten, dass 'kein größeres Glück dem dummen, schläfrigen deutschen Stamm widerfahren' könne, als wenn auf diese Weise 'Geistiges und Quickes unter seine Langweiligkeit und Schwerfälligkeit gemischt' und 'das Starre nur beleben und das Dumme begeistern' würde. (Fettdruck, U.D.) (2) In immer wiederkehrenden Wendungen hielt Arndt den Juden ihre 'Klugheit' vor, das 'Scharfe, Spitzige, das Geistige, das Schlaue, das Pfiffige'. Solche Charakterzüge kontrastierte er mit den 'deutschen Tugenden' Treue, Einfalt, Ordnungsliebe, Frömmigkeit. Arndt und seine Anhänger verherrlichten das Bedächtige, legitimierten den Hass des Tölpels und der Transuse auf die Regsamen und Behänden. Sie schufen den Boden, aus dem der spezifische deutsche Antisemitismus erwuchs: national eintöniges Gleichheitsgebrause, Engherzigkeit und grämlicher Neid auf  diejenigen, die sich mit hellwachem Geist an der Gegenwart erfreuten und deren Geschäfte in bunter Vielfalt blühten." (3)

Außer bei den Nationalrevolutionären - die ansonsten gegen Unterdrückung und Pressefreiheit kämpften und bereit waren, für ihre Ideen ins Gefängnis zu gehen -  gab es eine starke Judenfeindlichkeit auch bei Burschenschaftlern und den Jahnschen Turnern. Sie veranstalteten am 18.Oktober 1817 das Wartburgfest, bei dem es u.a. eine Bücherverbrennung gab. Hier wurde auch die Schrift von Saul Ascher "Germanomanie" verbrannt. Dieser hatte den Germanomanen vorgeworfen, sie würden die universellen republikanischen Prinzipien derartig zurechtstutzen, dass sie bloß für die Deutschen gelten sollten.

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche im 19. Jahrhundert
Durch die starken Umbrüche im 19.Jahrhundert und dem rasanten Tempo - durch industrielle Revolution, Marktkonkurrenz usw. - zerbrachen alte Gewohnheiten. Dagegen entwickelten sich Vorstellungen von Volksgeist, Blutsverwandtschaft und gemeinsame Geschichtsbande, die ein Mindestmaß an Geborgenheit vermittelten.

Weitere Kennzeichen waren:
- Die bäuerlichen Massen drängten in die Stadt. Dabei verloren sie oft ihren traditionellen Rückhalt. Für viele bedeutete hierbei individuelle Freiheit eher ein Verlust, und es entstand ein Wunsch nach kollektiver Sicherheit. (4)

- Die Handwerkerzünfte blieben oft noch in traditionellen Vorstellungen verhaftet und hemmten eher den wirtschaftlichen Fortschritt.

-  Es entstand jetzt aber ein neuer Mittelstand, der sehr agil war (darunter auch viele Juden).
Gefragt waren nun Anwälte, Ärzte, Verleger, Unternehmer, Börsenleute, Kaufhausgründer.

Zur Emanzipation der Juden - starke Widerstände in der Bevölkerung
Die Emanzipation der Juden machte langsame Fortschritte. Im Revolutionsjahr 1848 drückte es Israel Schwarz so aus, dass wohl mancher deutscher Staat schon längst die Gleichstellung der Juden ausgesprochen hätte, "wenn er nicht die unaufgeklärte, rohe, fanatische Masse fürchtete". Als z.B. König Ludwig in Bayern unter dem Druck der Märzrevolution zurücktreten musste und sein aufgeklärter Sohn Maximilian II. an die Macht kam, erklärte er die Judenemanzipation zum wichtigen Teil seines Regierungsprogramms. Bald darauf klebte an der  Münchener Theatinerkirche, die auch als Hofkirche diente,  das Plakat: "Maximilian, König der Juden!". Mit 600 Petitionen und fast 80 000 Unterschriften lief das bayerische Volk gegen König Max Sturm. (5)

Schon vorher hatte 1832 Gabriel Riesser es sehr drastisch ausgedrückt. Er sah den Neid im Zentrum der christlichen Judenfeindschaft. "Jeder Aufmerksame höre doch, dass 'unter Äußerungen des Unmuts gegen die Juden neunundneunzig auf diesem Boden gewachsen sind'. 'Derjenige, der in seinem Erwerbszweige mit den Juden konkurriert, glaubt, es geschehe ihm Unrecht (...) Der Neid, der sonst so gern sein hässliches Antlitz vor den Blicken der Menschen schamhaft verhüllt, zeigt sich hier in schamloser Nacktheit.' In solcher Schamlosigkeit nahmen die Mehrheitsdeutschen 'Vergrößerungsgläser der Habsucht' zur Hand, um die wenigen Juden sichtbar zu machen, und griffen gleichzeitig 'begierig nach jedem Vorwande', um ihre niederen, materiell gesteuerten Motive zu verbergen. (Fettdruck, U.D.) Zu diesem Zwecke redeten sie viel von 'öffentlichen Interessen, der Nationalität und der Aufklärung' - mit der alleinigen Absicht, ihren mosaischen Mitmenschen weiterhin die Bürgerrechte vorzuenthalten."(6)

Besonderheit in Deutschland: die territoriale und religiöse Zerrissenheit
In Deutschland gab es territoriale und religiöse Zerrissenheit, die schließlich im 17.Jahrhundert zum 30jährigen Krieg führte, mit seinen verheerenden Ausmaßen, und die als "Trauma der Selbstzerfleischung" lange nachwirkte. (7)

Eine weitere Erfahrung waren die schweren menschlichen Verluste in den deutschen Ländern durch die Eroberungen Napoleons und seinen Kriegszügen, insbesondere in Preußen. Es gab eine enorm hohe Zahl an Zwangsrekrutierten, von denen viele den Tod fanden. (8) Durch Napoleon gerieten auch die Werte der französischen Revolution, der Gewaltenteilung, der individuellen und bürgerlichen Freiheit früh in Misskredit.

- Nach den großen menschlichen und sozialen Verlusten der napoleonischen Zeit folgte eine eigentümliche fortschrittsfeindliche Starre.

- Außer der territorialen Vielfalt bzw. Zersplitterung gab es überhaupt Schwierigkeiten, das deutsche Territorium eindeutig zu bestimmen, was auch zu einer  Empfindlichkeit gegenüber Minderheiten und Fremden führte.
Es entwickelte sich der Wunsch nach einem Staat und Volk als Einheit, was in den Nachbarländern wie z.B. England und Frankreich eine Selbstverständlichkeit war. (9)

- Dadurch wurden Geschichtsmythen in einer Zeit entwickelt (wie z.B. der Kyffhäuser-Mythos), die eigentlich durch Entmythologisierung und Rationalität geprägt war.

- Insgesamt fehlte es den Deutschen im 19.Jahrhundert an emotionaler Integration, an gewachsenen und akzeptierten Institutionen, um die massiven gesellschaftlichen Veränderungen aufzufangen.

- Dabei entwickelte sich eine Überbetonung des Deutschen, was andererseits dem Mangel an Selbstbewusstsein und Freiheitswillen entsprach.

- Wirtschaftsliberale (wie Friedrich List), die sich für einheitliche Maße und Zollfreiheit einsetzten, und Liberale, die auf der Suche nach einem reinen Volksgeist waren, verloren den Blick für individuelle Freiheit. "Das deutsche Bürgertum musste nicht, wie (der Soziologe Julius) Goldstein 1927 erwähnt, der 'eigenen Vergangenheit untreu' werden, um Hitler zu folgen. Es hatte die Grundrechte der individuellen Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetz seit jeher opportunistisch verbogen. Der frühe Verrat, den Männer wie Friedrich List an den Grundsätzen des Liberalismus begangen hatte, gehörte fortan zum ungeschriebenen politischen Konsens der Deutschen." (10)
Hier wurde eine wichtige Grundlage dafür gelegt, dass später das deutsche Bürgertum so schnell mit dem nationalsozialistischen Volkskollektivismus sympathisierte und die Ideen der Freiheit und Gleichheit, mit denen es eigentlich einmal seine Emanzipation erkämpft hatte, antirepublikanischen Vorstellungen opferte.

Markante Antisemiten am Ende des 19.Jahrhundert: Wilhelm Marr und Adolf Stoecker
Im Vergleich zu England, Belgien und Nordfrankreich war die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland bis 1860 eher gemächlich verlaufen. Nun setzte ein wirtschaftlicher Aufschwung ein, der durch den gewonnenen deutsch-französischen Krieg 1870/71 einen enormen Auftrieb erhielt.
Die Emanzipation der Juden erreichte noch im Norddeutschen Bund 1869 durch die rechtliche Gleichstellung, die dann auf das neu gegründete Deutsche Reich übertragen wurde, einen Höhepunkt. Alles schien gut zu werden....
Dann brach ab 1879 die Welle eines neuen radikalen Antisemitismus aus, der stufenweise zum rassischen Antisemitismus führte. Wesentliche Vertreter dieses neuen Antisemitismus waren Wilhelm Marr, der 1879 die "Antisemitenliga" gründete und den Begriff des Antisemitismus prägte, sowie der protestantische Hofprediger Adolf Stoecker, der ebenfalls 1879 eine Rede herausgebracht hatte, durch die dem Antisemitismus  in Deutschland einen starken Auftrieb gab. (11)
Interessant ist nun, wie in den Augen dieser wegweisenden Antisemiten das Judentum wahrgenommen wurde. Für Stoecker gehören „Judentum und Fortschritt“ zusammen. „Man könne das Joch der Juden nur brechen. wenn man sich vom Fortschritt losmache.“ (12) Götz Aly betont, wie in der Biographie von Wilhelm Marr sich schon das abzeichnet, dass er bei den Juden das anprangert, was ihm selbst nicht gelang: der soziale Aufstieg. „Marr verkaufte seine Texte als ‚Schmerzensschrei Unterdrückter’. Längst sei es dahin gekommen, dass nicht von Judenhetze die Rede sein könne, sondern allein von Germanenhetze. Sie breche aus, ‚sobald nur ein nichtjüdisches Elements sich hervorwagt’: ‚ Wir sind diesem fremden Volksstamme nicht mehr gewachsen’, jammerte er im Namen der Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Für Marr und seine Anhänger stand ‚das flinke, kluge Israel’ gegen ‚die bärenhäutige germanische Indolenz’, standen die Juden, die mit ihren ‚Talenten wuchern’, gegen den ‚sittlichen Ernst’ der christlichen Deutschen. Konstantin Frantz sagte in etwas gehobener Diktion dasselbe: ‚So ist der Jude durch Schärfe des Blickes, gewandte Reflexion und kalte Berechnung dem Christen durchschnittlich weit überlegen.’“ (13)

Im selben Jahr (1879) beginnt auch der Antisemitismusstreit zwischen Treitschke und Theodor Mommsen. Mommsen ist einer der wesentlichen Gegner des aufkommenden neuen Antisemitismus und führt „die Krankheit des Antisemitismus“ 1894 auf den „eigenen Neid, die schändlichsten Instinkte“ zurück, auf den „wilden Hass gegen Bildung, Freiheit und Menschlichkeit“. (14)

Juden als Pioniere des Neuen
Das 19 Jahrhundert war geprägt von neuen Herausforderungen, bedingt u.a. durch die industrielle Revolution und gesellschaftliche Umbrüche. Gefragt waren nun Eigenschaften und Fähigkeiten, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Das gelang Juden im hohen Maße besser als anderen Minderheiten und der christlichen Mehrheit, so dass Neid und Missgunst die Haltung von Nichtjuden immer stärker bestimmte.

 In fast allen wesentlichen Bereichen waren Juden den christlichen Mitbürgern überlegen – sei es in der Bildungsgeschwindigkeit, dem Interesse an Neuem, der Risikobereitschaft und vielem anderen mehr. Der Erfolg. den sie nun in vielen Bereichen hatten, wurde ihnen geneidet und schlug in Antisemitismus um, der schließlich rassisch begründet wurde. Die besondere historische Situation - die jahrhundertelange Zersplitterung, das Sehnen nach einem einheitlichen Staat, verbunden oft mit Fortschrittsscheu und romantischen irrationalen Ideen –
führte letztlich in Deutschland zu einer besonders aggressiven Form des Antisemitismus, die dann im Holocaust zur weitgehenden Vernichtung der europäischen Juden führte.

Neid, Missgunst und eine niedere Gesinnung der christlichen Mitbürger kennzeichneten auch im 3.Reiche die Haltung der meisten Volksgenossen, z.B. bei Raubzügen gegen Juden, insbesondere der „Arisierung“ ihrer Geschäfte.
Nach dem 2.Weltkrieg schlug der Antisemitismus oft in einen „Philosemitismus“ um. (15) Unterschwellig wirkte der Antisemitismus weiter fort, manchmal trat er offen zu Tage wie z.B. in den antisemitischen Schmierereien im Winter 1959/ 60. (16) Triebfeder mag auch hier weiterhin der Neid sein, letztlich mögen die Ursachen wieder vielschichtig sein.

In seinem Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ hat Götz Aly wesentliche Merkmale herausgearbeitet, die zum besonderen aggressiven Antisemitismus in Deutschland führten. Durch die Folgen des Holocaust – der Gründung des Staates Israel – bekommt es noch einmal eine besondere Aktualität. Es ist die Frage, inwieweit die neue Israelfeindschaft, die in Teilen der deutschen Bevölkerung und insbesondere in Teilen der Linken in Bezug auf den Israel/ Palästina-Konflikt zu beobachten ist, mit alten antisemitischen Mustern zusammenhängt.
Auf der offiziellen Ebene wird in Deutschland zwar die Verbundenheit mit Israel betont, immer wieder ist in anderen Kreisen eine starke Israelkritik zu beobachten, die durch die problematische Politik der israelischen Regierung starken Auftrieb erhält. – Gerade aber durch den Blick auf die Geschichte bis in das 19.Jahrhundert hinein wird manches verständlich – vielleicht hilft dieser Blick auch bei der Lösung aktueller Fragen und Konflikte.
      U.Dittmann

Anmerkungen:
1. Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass. Frankfurt. 2011. S.42
2. Ernst Moritz Arndt, zitiert nach Götz Aly: a.a.O. 57
3. Götz Aly, a.a.O. S.57
4. Der Zuzug in die Stadt war im 19.Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20.Jahrhundert erheblich. 1871 wohnte jeder 20. Deutsche in einer Großstadt über 100 000 Einwohner, 1933 war es bereits jeder 3. - Wie in so vielen Bereichen eilten auch hier die Juden dem Trend voran.
5. Götz Aly: a.a.O. S. 89
6. a.a.O. S.92f
7. a.a.O. S.75
8. a.a.O. S.77
9. Bis 1934 gab es noch keine deutsche Staatsangehörigkeit. Wer eingebürgert wurde, war Preuße, Bayer, Sachse usw. Ausgerechnet Hitler verwirklichte diesen Traum 1934 mit einem Gesetz, das endlich die deutsche Staatsangehörigkeit schuf.
10. a.a.O. S.93
11. Adolf Stoecker: Das moderne Judenthum in Deutschland, besonders in Berlin. Zwei Reden in der christlich-sozialen Arbeiterpartei. Berlin 1879
12. A.Stoecker, zitiert nach Aly, G.: a.a.O. S.94
13. a.a.O. S.98
14. a.a.O. S.95
15 siehe auch Frank Stern: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg. Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte Nr. 14, Universität Tel Aviv, Gerlingen. 1991.
16 Matthias Meusch: Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen (1956-1968). Historische Kommission für Nassau. Wiesbaden. 2001. S.160

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