"Das deutsche Volk braucht eine Lektion im geltenden Völkerrecht..."

Fritz Bauer und sein Wirken in Deutschland
Gedanken zum 8.Mai

Fritz Bauer hat sich zu vielem geäußert; zum 8.Mai aber meines Wissens nicht. So hier einige Gedanken dazu.
Die Überschrift weist auf das Wirken von Bauer in Deutschland hin. Man könnte diese auch etwas plakativer wählen: "Fritz Bauer und seine Mission in Deutschland". Das würde seine Tätigkeit und sein Wirken wahrscheinlich noch besser beschreiben, es soll aber bei der einfachen und eher pragmatischen Sichtweise bleiben und sein "Wirken" behandeln.

Zunächst einige allgemeine Angaben:
Fritz Bauer wurde 1903 in Stuttgart in einer deutsch-jüdischen Familie geboren, hatte in Heidelberg, München und Tübingen Jura studiert und wurde 1930 jüngster Amtsrichter in Deutschland. Als engagierter Sozialdemokrat wurde er im März 1933 verhaftet und kam in das neu eingerichtete KZ Heuberg auf der Schwäbischen Alb und anschließend in das Außenlager in der Frauenstraße in Ulm. Ende 1933 wurde er wieder entlassen. Auf Grund des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" hatte er am 7.April 1933 auch seine Anstellung als Amtsrichter verloren. Durch den verstärkten innenpolitischen Druck - auch angesichts der Nürnberger Rassegesetze - emigrierte er Ende 1935 nach Dänemark, wo seit einem Jahr schon seine Schwester mit ihrem Mann lebte. Als die Gestapo im Oktober 1943 auch in Dänemark mit der Deportation der dort lebenden Juden begann, flüchtete Bauer mit seinen Eltern, seiner Schwester und ihrer Familie in der Nacht auf den 13.Oktober auf einem Fischkutter nach Schweden.
Dort engagierte er sich schon bald in der Exil-SPD, der SoPaDe, und gründete zusammen mit Willy Brandt und anderen die Zeitschrift "Sozialistische Tribüne".

"Die Kriegsverbrecher vor Gericht" (1944)
In besonderer Weise beschäftigte ihn aber weiterhin die Situation in Deutschland. Schon 1944 
schrieb er noch im schwedischen Exil sein erstes wichtiges Buch "Die Kriegsverbrecher vor Gericht", das 1945 auch auf deutsch erschien.
Robert M.W.Kempner, der stellvertretende Chefankläger in den Nürnberger Prozessen, der Bauer gut kannte, wies in seiner Gedenkrede zum Tode von Fritz Bauer 1968 darauf hin, dass sie dieses Buch von ihm auch in Nürnberg verwandt haben. (1)
Bauer beschreibt in diesem Buch den Umgang mit Kriegsverbrecher seit der Antike und entwickelt Kriterien für die Behandlung von Kriegsverbrechern angesichts der enormen Massenverbrechen im 2.Weltkrieg, deren ganzes Ausmaß ihm damals noch gar nicht bekannt sein konnte.
Obwohl die Sprache des Buches sehr nüchtern und sachlich ist, zeichnet sich hier schon das "Visionäre" seiner Ideen ab, indem er sich auf das allgemeine Völkerrecht bezieht. Nach dem Krieg werden schließlich die Begriffe wie "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", "Völkermord" und "Kriegsverbrechen" geprägt, die dann im sogenannten Kontrollratsgesetz Nr.10 der Alliierten eine Rolle spielen. Von vielen Deutschen wird dieses Gesetz abgelehnt und als Ausdruck einer Siegerjustiz verstanden. Ihrer Meinung nach sollte die Rechtsprechung in NS-Verfahren nach "deutschen Recht" erfolgen - letztlich mit der Folge, die Täter weniger zu bestrafen.

Nach der Gründung der Bundesrepublik wurde das KRG Nr.10 ab 1951 faktisch nicht mehr angewendet. Auch die Möglichkeit, die im Kontrollratsgesetz Nr. 10 enthaltenen völkerrechtlichen Tatbestände als Sondergesetze zu übernehmen und Sondergerichte einzuführen, wurde nicht wahrgenommen. (2) Man suchte die Rechtskontinuität. International gesehen könnte man vielleicht sagen, die deutsche Justiz versinke wieder in Provinzialität, um Menschenrechtsrechtsverbrechen nicht ahnden zu können. Es wird noch lange dauern, bis diese Kriterien auch für das deutsche Recht wieder eine Rolle spielen werden.

Bei Bauer zeichnet sich in seinem Buch von 1944 schon das ab, was man später das "Weltrechtsprinzip" nennen wird und schließlich Grundlage für die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshof  in Den Haag (1998) wird. In einem Text von amnesty international zur internationalen Strafverfolgung vom Mai 2010 wird das folgendermaßen ausgedrückt:

"Das Weltrechtsprinzip besagt, dass Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit - in Abweichung von der sonst geltenden Beschränkung des staatlichen Strafanspruchs auf das eigene Territorium und die eigenen Staatsbürger - weltweit verfolgt werden können, da sie die Staatengemeinschaft als Ganzes betreffen... Alle Staaten sind aufgefordert, ihre nationalen Strafrechtsbestimmungen an die Strafbestände des Römischen Statuts (vom 17.Juli 1988) anzupassen.
Die Bundesrepublik hat sich daher für die Einführung eines Völkerstrafgesetzbuches entschieden, das am 30.Juni 2002 in Kraft trat. Das VStGB ordnet für die folgenden Taten, die auch nach dem Statut des IStGH strafbar sind, die uneingeschränkte Geltung des Weltrechtsprinzips an und stellt sie untere Strafe. Zu diesen Straftaten nach demVStGB gehören Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen." (3)

Inzwischen haben 139 Staaten das Statut unterzeichnet, 120 davon haben es ratifiziert. Nicht ratifiziert haben bisher u.a. folgende Länder: USA, Russland, China, Indien, Pakistan, Türkei und Israel.

 

Eine Lektion im geltenden Völkerrecht...
Bis es so weit war, dass diese Tatbestände in das deutsche Recht aufgenommen wurden, war es noch ein weiter Weg. Fritz Bauer hat hier Zeichen gesetzt. Und das in einer Zeit, in der die deutsche Gesellschaft die Verbrechen der NS-Zeit verdrängen, vergessen oder verharmlosen wollte. Die deutsche Justiz leistete hier einen erheblichen Beitrag durch Unwilligkeit, Verschleppung oder Einstellung von Verfahren. Es ist unglaublich, welche enormen Widerstände Fritz Bauer jeweils erfuhr, von allen Seiten, nicht zuletzt auch von seinen eigenen Berufskollegen. Später in Frankfurt sollte er dann seinen inzwischen sehr bekannten Satz sagen: "Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich Feindesland."  Aber auch schon für die Braunschweiger Zeit mag dieser Satz seine Berechtigung haben.

Der Anspruch von Bauer und die Haltung weiter Teile der Justiz und der Bevölkerung klafften weit auseinander. Dass selbst befreundete Juristen wie Herbert Jäger seine Ideen nicht verstanden und als nicht mehr zeitgemäß empfanden, ist schon fast tragisch, da sie letztlich dazu führten, dass es weder eine Gesamtausgabe seiner Bücher, Schriften und Vorträge gibt, noch einzelne Bücher von ihm erschienen sind. (4)

Aber zurück in das Jahr 1944. Hier entwickelt Bauer in Schweden seine zukünftigen Ideen, die - wie gesagt - auch in die Rechtsprechung der Nürnberger Prozesse einflossen. Und er schreibt dort:

"Das deutsche Volk braucht eine Lektion im geltenden Völkerrecht... Die Prozesse gegen die Kriegsverbrecher können Wegweiser sein und Brücken schlagen über die vom Nationalsozialismus unerhört verbreitete Kluft zwischen den Deutschen und den Völkern, die unter dem NS-Regime gelitten hatten bzw. am opferreichen Krieg gegen Hitler-Deutschland beteiligt waren."
Die Prozesse "können und müssen dem deutschen Volk die Augen öffnen für das, was geschehen ist (...) und ihm einprägen (...), wie man sich zu benehmen hat. (5)

Und Bauer brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, "das deutsche Volk werde aus Einsicht in die eigene so überaus desolate moralische Verfassung nach dem verschuldeten und verlorenen Krieg und angesichts der verübten Massenverbrechen 'das Schwert des Krieges' mit dem 'Schwert der Gerechtigkeit' tauschen." (6)

"Ein ehrliches deutsches J'accuse würde das eigene Netz nicht beschmutzen (es ist schon beschmutzt und die Solidarität mit den Verbrechern würde es noch weiter beschmutzen). Es wäre ganz im Gegenteil das Bekenntnis zu einer neuen deutschen Welt, einem - und Bauer zitiert hier Johann Gottlieb Fichte - 'wahrhaften Reich des Rechts', das sich auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gründet." (7)

Die Ideen und Hoffnungen werden später in seine Prozesse einfließen, allerdings musste er zahlreiche Widerstände erleben. Viele Deutsche (und Juristen) waren noch nicht so weit, das "beschmutzte Nest" wirklich zu säubern. So war Bauer wie ein Kämpfer gegen seine Zeit, mit hohen Idealen, die oft erst später Wirklichkeit wurden.

Das Visionäre und Unbequeme von Bauer wurde später noch einmal von Kempner in seiner Gedenkrede zum Tode Bauers eindrücklich beschrieben:

"Liebe Freunde und Kollegen hier im Dornbusch
Ich beginne meine kurzen Worte mit dem Zweiten Buch der 5 Bücher Moses. Es heißt dort: Und der Engel des Herrn erschien Moses in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und der Herr rief zu Moses aus dem Busch: So gehe nun hin, ich will mit deinem Munde sein und dich lehren, was du sagen sollst.
Auch Fritz Bauer war jemand, der durch eine höhere Stimme gelehrt wurde, was er sagen sollte. Er war mehr als ein Reformer, er war mehr als hellhörig, er war prophetisch. Und deshalb, wie man manchen so sagt, 'unbequem'." (8)

Vergessen ... und eine kleine Renaissance?
Das Enorme ist, wie schnell Bauer nach seinem Tod 1968 vergessen wurde. Zwar gab es dann anläßlich seines 25.Todesjahres 1993 eine kleine Bauer-Renaissance - als dessen Folge u.a. auch das Fritz Bauer Institut in Frankfurt gegründet wurde - aber im Grunde blieb Bauer vergessen. Und für das Frankfurter Institut blieb er weitgehend nur der Namengeber.  Vielleicht ändert sich das jetzt wieder und es gibt eine "große"  Renaissance, seit die Biographie von Irmtrud Wojak im Jahr 2009 und der Film von Ilona Ziok "Tod auf Raten", der auf der Berlinale 2010 erfolgreich vorgestellt wurde, erschienen sind.

Rückkehr mit großen Hoffnungen...
Fitz Bauer hätte das verdient, insbesondere da er auch zu den Menschen gehörte, die in wesentlicher Weise am demokratischen Aufbau der jungen Bundesrepublik beteiligt war. Mit Deutschland fühlte er sich ja in besonderer Weise verbunden, er, der sich noch in Schweden als "patriotischer Exilant", wie Werner Renz es bezeichnet, fühlte. (9) Fritz Bauer kehrte mit großen Hoffnungen nach Deutschland zurück und hatte vielerlei Vorstellungen, wie die neue republikanische Justiz und ein reformiertes Strafrecht aussehen sollten.

Bauer äußert sich später in einem Interview dazu folgendermaßen:

"... weil ich glaubte, etwas von dem Optimismus und der Gläubigkeit der jungen Demokraten in der Weimarer Republik, etwas vom Widerstandsgeist und Widerstandswillen der Emigration im Kampf gegen staatliches Unrecht mitbringen zu können (...) Schon einmal hatte die Justiz, als es galt, die Demokratie zu verteidigen, ihre Macht missbraucht, und im Unrechtsstaat der Jahre 1933 bis 1945 war der staatlichen Verbrechen kein Ende. Ich wollte ein Jurist sein, der dem Gesetz und Recht, der Menschlichkeit und dem Frieden nicht nur Lippendienste leistet." (10)

Schon am 7.Juni 1945, einen Monat nach der Kapitulation und dem Ende der Terrorherrschaft, war Bauer von Schweden nach Dänemark zurückgekehrt. Er wollte wieder nach Deutschland gehen, was allerdings nicht ganz einfach war. Eine Zeit war er wohl auch am Schwanken, wie es genau weitergehen sollte - vielleicht doch lieber in Dänemark oder Schweden bleiben? Andererseits fühlte er auch, eine Art  Aufgabe in Deutschland zu haben.
"Er sehnte sich nicht nach Deutschland zurück, aber er fühlte eine große Aufgabe: die Reform des deutschen Rechtswesens", erinnert sich später die Historikerin und Kollegin Bauers am Sozialwissenschaftlichen Institut in Stockholm, Hanna Kobylinski. (11)

Eine schwierige Zeit in Niedersachsen
Gern wäre er auch nach Stuttgart, in seine alte schwäbische Heimat zurückgegangen, aber der Weg dahin war schwierig. Durch Vermittlung von Kurt Schumacher in Hannover kam er schließlich nach Niedersachsen, und durch Unterstützung des damaligen SPD-Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf und dem Präsidenten des Oberlandesgerichtes Bruno Heusinger wurde er im April 1949 Direktor des Landgerichts Braunschweig.

Es war ihm jedoch ausgedrückt worden, dass er seine Bewerbung zum Generalstaatsanwalt unbedingt aufrecht erhalten sollte, da "es von maßgeblichen Kreisen" gewünscht würde. Am 1.August 1950 wurde er dann Generalstaatsanwalt. Vorher hatte es aber noch zwei bedeutende Prozesse in Braunschweig gegeben, in die er durch seine späte Ernennung zum Generalstaatsanwalt noch nicht hatte eingreifen können: der Prozess gegen den ehemaligen Ministerpräsidenten Klagges und der Prozess wegen der Riesebergmorde im Juli1933, die jeweils zeigten, wie schwer seine Tätigkeit noch sein würde. Er begann in einer Zeit als Generalstaatsanwalt, als die restaurative Entwicklung mit voller Kraft einsetzte. Gegen diese Entwicklung setzte er Zeichen - ganz besonders auch durch den Prozess gegen Remer, durch den die Männer des 20.Juli rehabilitiert wurden. Remer hatte damals als Kommandant des Wachbataillons den Aufstand des 20.Juli niedergeschlagen, nach dem Krieg 1949 die SRP (Sozialistische Reichspartei) gegründet, die von einigen als "Kopie der NSDAP" bezeichnet wurde (12), und die Männer des 20.Juli als Vaterlandsverräter bezeichnet.

In einem Prozess, der bundesweit Aufsehen erregte, erreichte er die Verurteilung Remers. Dabei waren zwei Dinge von besonderer Bedeutung:
- zum einen seine Prozessstrategie, die auch für seine späteren Prozesse wichtig wurde, indem er Gutachten anfertigen ließ, die die Hintergründe und Sichtweisen erläuterten und klärten
- und dann seine Idee vom Widerstand, die er später noch weiter entwickeln wird. Hierbei geht er von einem "Kernbereich" des Rechts aus, der nicht angetastet werden darf. Wird dieser Kernbereich angetastet, ist Widerstand angesagt..
Der weitere entscheidende Schritt war, in diesem Prozess den NS-Staat als "Unrechtsstaat" zu bezeichnen, der als solcher nicht hochverratsfähig sei. (13)

Das Plädoyer zum Remer-Prozess, das 11 Seiten umfasst und auch in dem Buch von Perels/ Wojak "Die Humanität der Rechtsordnung" nachzulesen ist (14), ist ein literarisches Meisterwerk und ein Bekenntnis zum Rechtsstaat. In seinen Ausführungen vergisst Bauer es sogar, am Ende ein Strafmaß vorzuschlagen. Nicht um die Strafe ging es ihm, sondern um die Idee und Entwicklung des Widerstandsbegriffs in einem Unrechtsstaat, das in den Worten aus Schillers "Wilhelm Tell" gipfelt "Eine Grenze hat Tyrannenmacht..."

Remer wurde schließlich zu drei Monaten Haft verurteilt, der er sich dann durch Flucht entzog. Bauer aber hatte hier seine Visionen entwickelt, die zwar auch von der Bundesregierung mitgetragen wurden, aber nicht die allgemeine Stimmung repräsentierten - insbesondere nicht in Niedersachsen. Das spitzte sich dann 1955 zu, als bei der Landtagswahl der SPD-Ministerpräsident Kopf abgewählt wurde und Heinrich Hellwege von der DP Ministerpräsident einer Rechtskoalition aus CDU, FDP, DP und BHE wurde. Fritz Bauer verlor damit einen wesentlichen Rückhalt und suchte nach neuen Möglichkeiten. In Niedersachsen musste er eventuell sogar mit seiner Entlassung rechnen. Generalstaatsanwälte waren damals noch politische Beamte, die das ständige Vertrauen des jeweiligen Landesregierung benötigten und jederzeit ohne jegliche Begründung in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden konnten.

Durch Willy Brandt ergaben sich wichtige Kontakte nach Berlin, aber am dortigen Kammergericht war gerade kein geeigneter Posten frei. Brandt drängte ihn, noch zu warten und sich nicht anderweitig zu bewerben, aber da kam der Ruf aus Hessen, damals eine "Oase von Recht und Liberalität" in Deutschland, wie es   ... bezeichnet (15) Hessen war jetzt das einzige Flächen-Bundesland, das noch von der SPD regiert wurde - und hier war Fritz Bauer willkommen. Hier konnte er seine vielfältigen Ideen und Visionen weiter umsetzen, trotz vieler Widerstände hatte er hier Rückhalt in der Landesregierung und ganz besonders in dem Ministerpräsidenten Georg August Zinn. Und der Wechsel nach Hessen bedeutete für Bauer angesichts des Größenunterschieds beider Behörden letztlich einen erheblichen Aufstieg. In Braunschweig umfasste die Generalstaatsanwaltschaft nur das ehemalige Land Braunschweig sowie eine weitere Staatsanwaltschaft mit 1 Ober- und 1- Ersten Staatsanwalt, während er in Hessen für das ganze Bundesland zuständig war, mit 9 weiteren Staatsanwaltschaften und 13 Strafvollzugsanstalten. Als Frankfurter Generalstaatsanwalt war er jetzt Vorgesetzter von 4 Oberstaatsanwälten und 17 Ersten Staatsanwälte, insgesamt war er Vorgesetzter von 199 Staatsanwälten und Assessoren. (16)

Hermann Weinkauff stellt 1956 das Plädoyer des Remer-Prozesses in Frage
Wie groß die Kluft zwischen seinen Ideen und der Wirklichkeit war, zeigen zwei Beispiele aus den Jahren 1955/56. Noch in Braunschweig schreibt er 1955 seinen Aufsatz "Im Kampf um des Menschen Rechte" und beschreibt er hier seine Visionen in Hinblick auf Menschenwürde und Menschenrechte.

In völligem Gegensatz zu dieser Ideenwelt steht Hermann Weinkauff, 1937 bis 1945 Reichsgerichtsrat und seit 1950 Präsident des Bundesgerichtshofes. Helmut Kramer weist wiederholt mit Recht darauf hin, dass es noch keine eigentliche Biographie von ihm gibt. Weinkauff verfasst 1956 ein höchst widersprüchliches Gutachten, in dem die wesentlichen Gedanken von Bauer im Remer-Prozess wieder in Frage gestellt werden. Zwei Aspekte sind dabei besonders bedenklich:
- er sieht den NS-Staat nicht als Unrechtsstaat: "Zwar hat sich der nationalsozialistische Staat während seines ganzen Bestehens ständig durch schwerstes, von ihm selbst gesetztes Unrecht und durch furchtbare, von ihm selbst begangene Verbrechen befleckt. Trotzdem kann ihm der Staatscharakter nicht abgesprochen werden. Denn er hielt eine bestimmte Ordnung des staatlichen und gesellschaftlichen Gefüges aufrecht."
Perels und Wojak führen dazu aus: "Der Inhalt dieser abstrakt-allgemein und positiv aufgefassten Ordnung, nämlich die schrankenlose Aufhebung der Legalität als Schutzgarantie der Individuen, blieb bei Weinkauff an dieser Stelle unerwähnt, anders ist eine ideologische Verklärung von NS-Staatlichkeit nicht möglich. Weinkauff rechtfertigte, in unübersehbarem Gegensatz zu Bauer, die juristische Selbstverteidigung der NS-Despotie: 'Jeder Staat hat (...) um der von ihm erbrachten Ordnungsfunktion willen grundsätzlich das Recht, sich durch Strafandrohungen gegen gewaltsame Angriffe auf seinen inneren und äußeren Bestand zu schützen.'  Das bedeutete, dass politische Widerstandshandlungen gegen den NS-Staat (...) für den Präsidenten des Bundesgerichtshofs prinzipiell keine Legitimation besaßen." (17)

- Und er schränkt den Widerstandsbegriff ein, so dass er im Grunde überflüssig wird.
"Ich darf im allgemeinen Widerstand nur leisten, wenn ich einigermaßen begründete Hoffnung haben darf, dass mein Widerstand die Sache zum Besseren wenden wird." (18)

Dieser Widerstandsbegriff, den Weinkauff hier entwickelt, ist im Grunde eine Farce. Später wird der BGH diesen obrigkeitsstaatlichen Widerstandsbegriff übernehmen,  der grundsätzlich an eine erfolgreiche Umsturzhandlung gebunden ist.

In Hessen
In Hessen beginnt endlich ein neues Kapitel. Im Kern stehen sicherlich die Ermittlungen zum Auschwitz-Prozess ab 1959 und die Ermittlungen zu den Juristen- und Euthanasie-Prozessen, die ebenfalls ab 1959 beginnen. Und daneben seine Aktivitäten in vielen anderen Bereichen, sei es zur Reform des Strafrechts, zur Zensur von Presse und Kunst, zum Strafvollzug, zum Sexualstrafrecht und zu den NSG-Verfahren.

Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehen dabei die Werte des Pluralismus und der Toleranz. Pluralismus war für Bauer nicht ein Wert, sondern der Wert an sich. "Jeder Glaube wird jede Lehre aber, die sich für ein Wahrheitsmonopols aussprach, sei abzulehnen." (19) Im Grunde könnte man Bauers Sichtweise als "Ethik des Pluralismus" bezeichnen, was deutlich u.a. auch in seinen Kommentaren zur Spiegelaffäre von 1962 zum Ausdruck kommt. Im Vordergrund stand bei ihm immer der Schutz des Einzelnen vor den Eingriffen des Staates.

Die NS-Prozesse sollen den Deutschen "Schule und Unterrichtsstunde" sein...
Bei den Strafverfahren auch gegen NS-Täter ging es Bauer nicht um Schuldvergeltung. Zweck der Strafprozesse war vielmehr - wie auch schon beim Remer-Prozess - Lernprozesse bei den Deutschen anzustoßen. (20) Die Prozesse sollten den Deutschen "Schule und Unterrichtsstunde" sein Es seien notwendige Lehren zu ziehen, wenn die Deutschen eine Zukunft in Freiheit und Frieden haben sollten, und das angesichts einer Demokratie nach dem Krieg, die nicht erzwungen worden war, sondern die die Sieger den Deutschen "beschert" hatten.

So ging es ihm einerseits um eine Analyse des Vergangenen, aber auch um Deutschlands Gegenwart und Zukunft.

Nach Bauers Deutung war eine große Zahl der Deutschen Nazis gewesen und somit auch für das weitere Geschehen mitverantwortlich.
Es gab "in Deutschland nicht nur den Nazi Hitler und nicht nr den Nazi Himmler. Es gab Hunderttausende, Millionen anderer, die das, was geschehen ist, nicht nur durchgeführt haben, weil es befohlen war, sondern weil es ihre eigene Weltanschauung war, zu der sie sich aus freien Stücken bekannt haben. Und die Mehrzahl der SS war nicht bei der SS, weil sie gezwungen war, sondern sie war bei der SS, und sie war bei der Wachmannschaft im Lager Auschwitz und in Treblinka und Majdanek, und die Gestapo war in aller Regel bei den Einsatzgruppen (sic), weil die Leute ihren eigenen Nationalsozialismus verwirklichten." (21)

Für Bauer waren die Deutschen, die sich als Volksgenossen empfanden und dabei eine Gefolgschaftstreue zeigten, somit in strafrechtlicher und tatsächlicher Hinsicht alles andere als ein Volk von Gehilfen gewesen. (22) Insbesondere die Tatbeteiligten in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ließen sich für ihn strafrechtlich als Mittäter qualifizieren. In den Prozessen ging es ja oft um die Frage, ob eine Täterschaft oder Teilnahme (Beihilfe) vorliege. Meist wurden die Täter wegen Beihilfe verurteilt und erhielten dementsprechend geringere Strafen.

Bauer versuchte die Westdeutschen von der Notwendigkeit und dem Nutzen der Prozesse zu überzeugen, was nicht einfach war. Andererseits war Bauer auch klar, dass der Strafvollzug nicht geeignet war, um NS-Täter zu verändern, da die Strafen letztlich nur gering waren und man oft schon mit vorzeitiger Haftentlassung rechnen konnte. Insgesamt ging es ihm aber nicht nur um die Täter. In seinem Buch "Die Kriegsverbrecher vor Gericht" drückt er es so:

"Der einzelne Verbrecher spielt dabei nur die Rolle des Mittels zum Zweck. Er dient einem höheren Ziel. Seine Person verschwindet hinter der Sache, es geht nicht so sehr um ihn und seine oft diskutierbare Schuld; es geht um das Verbrechen als solches und die Aufrechterhaltung der Normen, die die Gemeinschaft zum Schutz ihrer Existenz und Entwicklung aufgestellt hat." (23)

Bei aller Enttäuschung über die oft geringen Strafen, insbesondere auch im Auschwitz-Prozess, hatte er aber eines bewirkt: der Holocaust und andere Kriegsverbrechen sind in das Bewusstsein der Menschen geraten, Auschwitz selbst ist zu einer Zäsur geworden.

Und er hat gezeigt: es gibt einfach eine Grenze, die nicht überschritten werden darf. Er führt dazu aus: "Wenn die Prozesse einen Sinn haben, so ist es die unumgängliche Erkenntnis, daß Anpassung in einem Unrechtsstaat Unrecht ist. Wenn der Staat kriminell ist, weil er die Menschen- und Freiheitsrechte, die Gewissensfreiheit, das Recht auf eigenen Glauben, auf eigene Nation und Rasse, das Recht auf eigenes Leben systematisch verletzt, ist Mitmachen kriminell." (24)

An anderer Stelle sagt Bauer dazu: "Unsere Strafprozesse gegen NS-Täter beruhen ausnahmslos auf der Annahme einer (...) Pflicht zum Ungehorsam. Dies ist der Beitrag dieser Prozesse zur Bewältigung des Unrechtsstaates in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese pädagogische Aufgabe wird gern übersehen." (25)

"Gerichtstag halten über uns selbst..."
Werner Renz führt in seinem Text "Fritz Bauer zum Zweck der NS-Prozesse" aus, dass die Prozesse eine "bittere Arznei" (Bauer) sei, die von den westdeutschen Wohlstandsbürgern nur widerstrebend eingenommen werde.(26) Aber man müsse sich eben der Vergangenheit stellen, um eine gesicherte Zukunft in Frieden und Freiheit zu haben. Und dann folgt der bekannte Satz von Bauer:

" 'Bewältigung unser Vergangenheit' heißt Gerichtstag halten über uns selbst, Gerichtstag halten über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt alles, was hier inhuman war, woraus sich zugleich ein Bekenntnis zu wahrhaft menschlichen Werten in Vergangenheit und Gegenwart ergibt, wo immer sie gelehrt und verwirklicht wurden und werden. Ich sehe darin nicht (...) eine Beschmutzung des eigenen Nestes; ich möchte annehmen, das Nest werde dadurch gesäubert." (27)

Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.

U.Dittmann

 

Anmerkungen:
1. Robert M.W.Kempner: Liebe Freunde und Kollegen hier im Dornbusch. In: Fritz Bauer in memoriam. Gedenkschrift zum Tode von Fritz Bauer. Hrsg Der hessische Minister der Justiz. Wiesbaden. 1969. S. 23
2.siehe: www.wikipedia.org/wiki/Kontrollratsgesetz_Nr._10
3. amnesty international: Internationaler Strafgerichtshof und Völkerstrafgesetz. Flyer. Bonn. 2010.
4. Irmtrud Wojak: Fritz Bauer (1903-1968). Eine Biographie. München 2009. S.23
5. Fritz Bauer: Die Kriegsverbrecher vor Gericht. Zürich. 1945. S.211
6 ebd. S.211
7 ebd. S.211
8. Kempner a.a.O. S.23
9. Werner Renz: Fritz Bauer zum Zweck der NS-Prozesse. Eine Rekonstruktion. In. Bulletin des Fritz Bauer Institutes. Frankfurt. 2012. S.41
10. Fritz Bauer: Unbetitelter Artikel, in: Deutsche Post (1962), S. 657f,  zitiert nach Matthias Meusch: Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen. Wiesbaden 2001. S.23f
11. Wojak a.a.O. S.217
12. Meusch a.a.O. S.17
13. Fritz Bauer: Eine Grenze hat Tyrannenmacht. Plädoyer im Remer-Prozess (1952). In:
Joachim Perels/ Irmtrud Wojak: Die Humanität der Rechtsordnung. Frankfurt.1998.S.177
14. ebd. S. 169-179
15. Meusch a.a.O. S.1
16. ebd. S.15
17 Perels/ Wojak: Die Humanität ... S.27
18. Hermann Weinkauff: Die Militäropposition gegen Hitler und das Widerstandsrecht, zitiert nach: Perels/ Wojak: Die Humanität... S.27f
19. Meusch a.a.O. S.24
20. Renz a.a.O. S.41
21. Fritz Bauer: Zu den Naziverbrecher-Prozessen. Gespräch im NDR (1963). In Perels/ Wojak: Die Humanität ... S.110
22. Renz a.a.O. S. 41
23  Fritz Bauer: Die Kriegsverbrecher vor Gericht,  a.a.O. S.205
24. Fritz Bauer: Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart, zitiert nach Renz a.a.O. S.42
25. ebd. S. 42
26. ebd. S. 42
27. Fritz Bauer: Im Mainzer Kulturministerium gilt ein merkwürdiges Geschichtsbild, in: Frankfurter Rundschau vom 14.7. 1962; ebenso in ders.: Wurzeln des Bösen. S.12; zitiert nach Renz a.a.O. S.42

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