Fritz Bauer und der Rieseberg
oder:
War die Verzögerung der Ernennung von Fritz Bauer zum Generalstaatsanwalt in Braunschweig Zufall?

Am 22.Juli 1950 wurde das Urteil im Rieseberg-Prozess gesprochen. Genau auf diesen Tag ist der Erlass im Niedersächsischen Justizministerium datiert, durch den Fritz Bauer mit Wirkung zum 1.August 1950 Generalstaatsanwalt in Braunschweig wurde.
Und es gibt dazu eine eigenartige Vorgeschichte.

Zur Geschichte der Rieseberg-Morde:
Die Rieseberg-Morde von 1933 spielen in der Braunschweiger Erinnerungskultur eine besondere Rolle. Jedes Jahr findet anläßlich dieser Morde eine große Gedenkfeier am 4.Juli an der Stelle am Pappelhof in Rieseberg statt, an der zehn willkürlich ausgesuchte Kommunisten und Sozialdemokraten von einem SS-Kommando gefoltert und heimtückisch ermordet wurden.
                      
Auch in diesem Jahr wurde wieder der Opfer gedacht. Der DGB hatte zu der Gedenkfeier eingeladen. Diese begann zunächst am Heinrich-Jasper-Denkmal in Braunschweig am Ruhfäutchen-Platz (gegenüber der Burg Heinrichs des Löwen). Hier legten Vertreter von Parteien, Gewerkschaften und anderen Organisationen Kränze nieder. Mit einem Sonderbus wurde dann zum Hauptfriedhof an der Helmstedter Straße gefahren, wo es an den Gräbern von Ermordeten zu einer weiteren Kranzniederlegung kam. Anschließend fuhr der Sonderbus weiter zum Pappelhof nach Rieseberg, wo die Hauptveranstaltung der Gedenkfeier stattfand. Michael Kleber, Regionsvorsitzender des DGB, sprach Worte zur Begrüßung, die Rede hielt dann der Bürgermeister von Rieseberg, Alexander Hoppe (SPD). Musikalisch wurde die Veranstaltung begleitet vom Gewerkschaftschor „Gegenwind“ aus Wolfsburg. – Die Betroffenheit über die Ereignisse von damals war – auch nach so vielen Jahren – deutlich zu spüren.

Worum war es bei diesen Morden gegangen?
Zu Beginn des Jahres 1933 war nach der Machtübernahme von Hitler am 30.Januar innerhalb weniger Monate die gesamte politische Opposition ausgeschaltet worden. Auch Fritz Bauer in Stuttgart war davon betroffen und als SPD-Mitglied und Leiter des Reichsbanner in das KZ Heuberg gebracht worden (zusammen mit Kurt Schumacher). In Braunschweig gab es schon im Juni 1933 fast keinen aktiven Widerstand mehr. Nur im Geheimen konnten sich noch kleine Gruppen von Sozialdemokraten und Kommunisten treffen.

Nun kursierte in Braunschweiger Betrieben Ende Juni 1933 ein Flugblatt, in dem berichtet wurde, dass „der ehemalige Jungreichsbannerführer Otto Rose von der viehischen SS-Hilfspolizei erschlagen worden sei.“ Tatsächlich war Otto Rose am 22.Juni gefangen genommen worden, in das „Volksfreunde-Haus“ verschleppt und dort so schwer gefoltert worden, dass er am 25.Juni an den erlittenen Folgen gestorben war. – In dem besagten Flugblatt wurde zur Teilnahme an der Beerdigung aufgerufen.

Hiervon erfuhren die Braunschweiger SS-Führer und schickten SS-Männer in kleinen Gruppen auf „Kommunistenjagd“. Eine dieser Streifen fand im Eichtal, einem Arbeiterviertel im Nordwesten Braunschweigs dann ein solches Flugblatt. Nun wurden alle verfügbaren SS-Leute in das Gebiet geschickt – dabei kam es versehentlich zwischen zwei SS-Streifen zu einer Schießerei, bei der der SS-Mann Gerhard Landmann erschossen wurde.

Werner Sohn berichtet in seinem Buch von 2002 „Im Spiegel der Nachkriegsprozesse: Die Errichtung der NS-Herrschaft im Freistaat Braunschweig“ ausführlich über die weiteren Ereignisse (1).
Der SS-Gruppenführer Friedrich Jeckeln, der auch Leiter der Landespolizeiamtes war, versuchte die für die SS peinlichen Todesumstände zu vertuschen und behauptete, Landmann sei von Kommunisten erschossen worden. Er rief die Polizei und die nazistischen Kampftrupps zur erbarmungslosen Kommunistenverfolgung auf. An den folgenden Tagen wurden etwa 400 Kommunisten und Mitglieder anderer linksgerichteter Organisationen in die AOK, dem Folterzentrum der SS, in der Fallersleber Straße gebracht. Am Morgen des 4.Juli kam Jeckeln und ging mit einigen zu „Hilfspolizisten“ ernannten SA- und SS-Männern in den Keller. In zwei größeren Kellerräumen verharrten ungefähr 250 Gefangene dicht zusammengepfercht. Hier ließ Jeckeln zunächst 30 Gefangene aussondern, schließlich wählte er willkürlich zehn Männer aus, die an diesem Tag noch ermordet werden sollten.

Gegen Mittag wurden diese 10 Männer auf einen LKW gebracht. Von einem PKW begleitet fuhr der Gefangenentransport in einer Fahrt von ungefähr 20 Minuten zum Pappelhof, einem bei Rieseberg gelegenen ehemaligen Freizeitheim des „Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes“,  das die Nazis im Mai 1933 beschlagnahmt hatten. Hier wurden die Männer gefoltert und erschossen.

Die Ausschaltung der politischen Opposition, die – wie oben erwähnt – gleich nach der Machtübernahme von Hitler in den ersten Monaten stattgefunden hatte, war durch verschiedene Erlasse und Verordnungen auch rechtlich „legitimiert“, insbesondere durch die sogenannte Reichsbrandverordnung vom 28.Februar 1933. Im Freistaat Braunschweig wurde dabei besonders brutal vorgegangen, was sogar reichsweit für Aufsehen sorgte. Hier nutzte die braunschweigische Regierung die politischen Veränderungen im Reich zum Ausbau der eigenen Machtposition. Ein wichtiges Mittel war dabei die Ernennung nationalistischer Kampftruppen zur „Hilfspolizei“. Am 1.April 1933 waren im Freistaat Braunschweig 1.721 aus SA und SS rekrutierte „Hilfspolizisten“ rekrutiert (2), die für besonderen Terror sorgten. Am 31.August 33 wurde dann die „Hilfspolizei“ wieder aufgelöst – die „Arbeit“ war getan, es gab praktisch keine Opposition mehr.

Bei den Nachkriegsprozessen in Braunschweig spielte deswegen angesichts der Fülle der Verbrechen die Zeit von Januar – Juli 1933 eine besondere Rolle. In diese Zeit fallen auch die Rieseberg-Morde.

Die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Braunschweig nach dem Krieg
Da es in Hinblick auf Fritz Bauer und die Rieseberg-Morde eine Eigentümlichkeit gibt (die Ernennung von Fritz Bauer zum Generalstaatsanwalt in Braunschweig wurde verzögert, bis die Rieseberg-Prozesse abgeschlossen waren), hier zunächst ein Überblick über die verschiedenen Phasen der Rechtsprechung über NS-Verbrechen nach dem Krieg in Braunschweig von 1945-50, also bis zur Ernennung von Fritz Bauer als Generalstaatsanwalt.

Drei Phasen sind dabei zu unterscheiden:
1.Phase: Herbst 1945- Mai 1948: In dieser Zeit war Curt Staff als Generalstaatsanwalt in Braunschweig tätig, bis er dann am neu eröffneten Obersten Gerichtshof in der Britischen Zone Senatspräsident wurde.
Curt Staff war ein ungewöhnlich engagierter Generalstaatsanwalt. Er richtete in der Staatsanwaltschaft Braunschweig eine vierköpfige Arbeitsgruppe speziell für NS-Verbrechen ein. Die Bürgermeister und Landräte im Lande Braunschweig wurden noch 1945 in einem Rundschreiben aufgefordert, Material über die NS-Verbrechen zu sammeln und weiterzuleiten. Mit zweitausend Aufrufen, die an Mauern angeschlagen wurden, wandte man sich zudem direkt an die Bevölkerung, bat Zeugen, sich wegen der Rieseberg-Morde zu melden. (3)
In der Nachkriegszeit war es keinesfalls selbstverständlich, dass Staatsanwaltschaften von sich aus in Eigeninitiative gegen NS-Verbrechen ermittelten. Vielmehr wurden in den ersten Nachkriegsjahren die meisten NS-Ermittlungsverfahren aufgrund von Anzeigen aus dem Umkreis der betroffenen Opfer eingeleitet.
In der Zeit von Curt Staff fanden die meisten NS-Prozesse in Braunschweig statt. Hinzu kam, dass in dieser Zeit auch in der Bevölkerung ein starker Wunsch nach Aufarbeitung bestand.

2.Phase: Mai 1948- August 1950: In dieser Zeit war das Amt des Generalstaatsanwaltes in Braunschweig vakant. Die Stelle von Staff war nicht wieder besetzt worden, und die Aufgaben wurden vom Celler Generalstaatanwalt mitverwaltet worden.
In dieser Zeit setzte ein allgemeiner Stimmungsumschwung ein, verbunden auch mit der verstärkten Wiedereinstellung ehemaliger NS-Richter, denen oft das Unrechtsbewusstsein fehlte, d.h. dass für sie auch der NS-Staat kein „Unrechtsstaat“ gewesen war.
In dieser Phase wurden viele Prozesse lustlos geführt. Es wurden weniger ermittelt, Verfahren wurden verschleppt oder ganz eingestellt und das Strafmaß bei Urteile war eher niedrig.
In diese Phase fällt auch der Rieseberg-Prozess mit den eher geringen Strafen.

3.Phase: Ab August 1950: Fritz Bauer wird Generalstaatsanwalt in Braunschweig. Die meisten Prozesse haben inzwischen stattgefunden oder sind eingestellt worden. Bauer muss gegen harte Widerstände kämpfen und führt schließlich 1951/52 den „Remer-Prozess“ in Braunschweig, der national für Aufsehen sorgt. In dem Prozess werden die Männer des 20.Juli rehabilitiert, da Fritz Bauer den NS-Staat zum „Unrechtsstaat“ erklärt. Eine neue Phase der Rechtsprechung nach „deutschem“ Recht setzt ein. Im Rahmen dieses Prozesses entwickelt Bauer seinen Widerstandsbegriff: Es gibt nicht nur ein „Recht“ auf Widerstand, sondern auch eine „Pflicht“ zum Widerstand, nämlich da, wo die Würde des einzelnen Menschen und die Menschenrechte verletzt werden.

Warum wurde die Ernennung von Fritz Bauer zum Generalstaatsanwalt in Braunschweig verzögert?
Nun war es eine Merkwürdigkeit: Fritz Bauer wollte eigentlich schon 1949 Generalstaatsanwalt in Braunschweig werden. Er hatte sich auf dieses Amt beworben und war dabei auch maßgeblich von dem niedersächsischen SPD-Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf unterstützt worden.

Aber plötzlich kam aus dem Justizministerium Widerstand dagegen. Es wandte ein, dass „einem Wiederbeginn in der deutschen Justiz (von Bauer) ständen in einer derart exponierten Stellung gewisse sachliche und persönliche Bedenken entgegen. Es erscheine zweckmäßiger, wenn Bauer seine Tätigkeit in einer Stellung beginne, die weniger Spezialkenntnisse voraussetze, legte ihm nahe, als Landgerichtsdirektor in den Justizdienst einzutreten, und fügte hinzu, seine Bewerbung auf die Stelle des Braunschweiger Generalstaatsanwalts müsse er aufrechterhalten, da dies von maßgeblichen Herren in Braunschweig gewünscht werde. Bauer trat am 12.April 1949 seine Stelle als Landgerichtsdirektor in Braunschweig an. Die Stelle des Generalstaatsanwaltes blieb vorläufig vakant.“ (4)

In diese Zeit fielen der Klagges-Prozess und der Rieseberg-Prozess, die beide für die Region von besonderer Bedeutung waren. Klagges hatte immerhin als NS-Innenminister im Freistaat Braunschweig Hitler „eingedeutscht“ und war dann nach dem 30.Januar 1933 - zunächst als Innenminister und ab Mai 1933 als Ministerpräsident des Freistaates – wesentlich für den ungewöhnlichen Terror in Braunschweig verantwortlich. Und die Rieseberg-Morde hatte in der Bevölkerung für große Unruhe und Betroffenheit gesorgt.

Nun wurde genau für diese beiden Prozesse verhindert, dass Fritz Bauer als Generalstaatsanwalt eingreifen konnte. Um das zu verstehen, muss man einiges noch zu der Person von Fritz Bauer sowie zu den konkreten Umständen der Prozesse wissen. (Denn die jeweiligen milden und extrem ungerechten Urteile waren vielleicht nur möglich, weil Bauer noch nicht Generalstaatsanwalt war).

Wofür stand Fritz Bauer?
Im Mittelpunkt der Rechtsprechung nach dem Krieg stand das Kontrollratsgesetz Nr.10 (KRG Nr.10). Dieses Gesetz war 1945 von den Siegermächten in den westlichen Besatzungszonen eingeführt worden und bildete neben den Urteilen der Nürnberger Prozesse die Grundlage für die juristische Ausarbeitung für NS-Verbrechen.

„Am 20.Dezember 1945 beschloss der Alliierte Kontrollrat in Deutschland das Gesetz Nr.10, um eine einheitliche Rechtsgrundlage für die Strafverfolgung von Kriegsverbrechern, Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schaffen. Das Kontrollratsgesetz Nr.10 (KRG Nr.10) bildete zusammen mit dem Urteil des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher die rechtliche Grundlage für die Aburteilung von NS-Verbrechen durch die alliierten Militärgerichte und die Spruchgerichte; in Kombination mit dem deutschen Strafrecht bildete es zudem die Rechtsgrundlage für die Aburteilung von NS-Verbrechen durch deutsche Gerichte.
In der Britischen Zone wurden ab 1946 deutsche Gerichte ermächtigt, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu verfolgen, soweit sie von Deutschen an Deutschen oder an Staatenlosen begangen worden waren. Die Ermächtigung, die zunächst auf so genannte „Lagerverbrechen“ begrenzt war, wurde 1947 auf alle von Deutschen an Deutsche und an Staatenlosen begangenen Unmenschlichkeitsverbrechen erweitert.
Der Tatbestand des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ lautete nach Artikel II,1.c des Kontrollratsgesetzes Nr.10 wie folgt: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gewalttaten und Vergehen, einschließlich der folgenden, obigen Tatbestand jedoch nicht erschöpfende Beispiele: Mord, Ausrottung, Versklavung, Zwangsverschleppung, Freiheitsberaubung, Folterung, Vergewaltigung oder andere an der Zivilbevölkerung begangene unmenschliche Handlungen, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen ohne Rücksicht darauf, ob sie das nationale Recht des Landes, in welchem die Handlung begangen worden ist, verletzen.
Durch den letzten Passus wurden auch diejenigen politisch, rassisch oder religiös motivierten Verfolgungsmaßnahmen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert, welche durch nazistische Diskriminierungs- und Unterdrückungsgesetze legitimiert waren. Denjenigen Angeklagten, die unmenschliche Handlungen begangen hatten, war also der Ausweg abgeschnitten, sich auf das nazistische Unrechtssystem zu berufen, um Straffreiheit zu erlangen.  Das KRG Nr.10 durchbrach damit den juristischen Grundsatz des Rückwirkungsverbotes, demzufolge im Nachhinein nicht als strafbar erklärt werden darf, was zur Tatzeit nicht strafbar war.“ (5)

Die meisten deutschen Richter, insbesondere diejenigen mit NS-Vergangenheit, lehnten das KRG Nr.10 mit dem Argument ab, dass hierdurch der Grundsatz des Rückwirkungsverbotes und das Prinzip der Rechtssicherheit durchbrochen wurde, und wollten es nur auf die Taten beschränkt sehen, die zur Zeit des 3.Reiches strafbar waren.

Einflussreiche deutsche Juristen versuchten zu verhindern, dass deutsche Gerichte ermächtigt wurden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf der Grundlage des KRG Nr.10 abzuurteilen. Ein Gipfel war dann die Forderung des Göttinger Rechtsprofessors Eberhard Schmidt, dass darüber hinaus die von den Nationalsozialisten erlassenen Amnestien Bestand haben müssen. „Nach dieser Rechtsauffassung wäre etwa der von NSDAP- Ministerpräsident Klagges im Frühjahr im Lande Braunschweig organisierte Terror, die Morde in Rieseberg und die Folterungen in der AOK aufgrund der von Klagges gewährten Amnestien der Strafverfolgung entzogen gewesen.“ (6)

Curt Staff hatte sich bei seinen Ermittlungen an dem KRG Nr.10 orientiert und zu „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ermittelt. Nach seinem Weggang im Mai 1948 wurde das deutlich anders.

Den deutschen Richtern fehlte weitgehend ein Unrechtsbewusstsein. Für das KRG Nr.10 ist der NS-Staat ein „Unrechtsstaat“ gewesen. Für die meisten Richter war es dagegen ein „Rechtsstaat“ – nur was gegen die damaligen Gesetze verstoßen hatte, könne belangt werden. Außerdem war es durch das im deutschen Recht verankerte Rückwirkungsverbot  zunehmend schwieriger, NS-Verbrechen vor Gericht zu bringen. Und das deutsche Recht sah den Tatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht vor. So spielt in diesen und den kommenden Jahren der Kampf der deutschen Justiz gegen das KRG Nr.10 eine wichtige Rolle.
 
Der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone (OHG) bestand aber auf der Anwendung des Kontrollratsgesetzes durch die Untergerichte.

Der OHG „bestand etwas länger als zwei Jahre und wurde mit der Gründung des Bundesgerichtshofes (BGH) zum 1.Oktober 1950 aufgelöst. Die Rechtsprechung des BGH zu NS-Verfahren unterschied sich weitreichend von der des OGH. Der erste Präsident des Bundesgerichtshofes, Hermann Weinkauff, war ein entschiedener Gegner des KRG Nr.10 und trug dazu bei, dass es am April 1951 aufgehoben wurde. Bereits am 31.Dezember 1949 hatte der Bundestag als eines seiner ersten Gesetze ein Straffreiheitsgesetz erlassen, das auch NS-Täter einschloss. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland verschlechterten sich also die Rahmenbedingungen für die Verfolgung von NS-Verbrechen innerhalb von zwei Jahren beträchtlich.“ (7)

Die Rolle von Hermann Weinkauff hinsichtlich der Integration von NS-Tätern in die neugegründete Bundesrepublik ist nicht zu unterschätzen. Weinkauff kritisierte auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 17. Dezember 1953, in dem entschieden wurde, dass alle Beamtenverhältnisse aus der Zeit des 3.Reiches mit dem Tag der bedingungslosen Kapitulation erloschen sein. Er weigerte sich, der Rechtsauffassung des Verfassungsgerichtes zu folgen – ein nach Ingo Müller bis heute einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik. (8) Die vom Verfassungsgericht penibel aufgezählten Unrechtsakte der nationalsozialistischen Richter- und Beamtenschaft nannte der Große Zivilsenat unter Vorsitz seines Präsidenten Hermann Weinkauff bloße „Zierate“, die die eigentliche Arbeit der Beamtenschaft nicht nennenswert beeinflusst hätten.
„Der überwiegende Teil der deutschen Beamten hat sich … trotz des schimpflichen und rechtswidrigen Druckes … in erster Linie dem Staate und seinen legitimen Aufgaben verpflichtet gefühlt; der persönliche Treueid auf Hitler habe schließlich nicht ihm persönlich gegolten, sondern dem obersten Staatsorgan.“(9)

Und vier Jahre nach dem Remer-Prozess wandte sich Weinkauff in einem höchst widersprüchlichen Rechtsgutachten dagegen, den NS-Staat als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen.(10) Immerhin hat Weinkauff, nachdem er 1960 in den Ruhestand ging, das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband bekommen. (11)

Fritz Bauer vor seiner Tätigkeit in Braunschweig – drei Jahre im „Schwebezustand“
Bauer war 1936 nach Dänemark emigriert und 1943 weiter nach Schweden geflüchtet, als die Deutschen Dänemark besetzten. Schon im Exil in Schweden hatte er 1944 eine Schrift verfasst („Die Kriegsverbrecher vor Gericht“), in denen er Kriterien entwickelte, nach denen Kriegsverbrecher verurteilt werden könnten. Es sind ähnliche Kriterien, wie sie dann später in dem Begriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zum Ausdruck kamen und in den Nürnberger Prozessen eingesetzt wurden.

Die Menschen in Braunschweig wussten also, was auf sie in der Person von Fritz Bauer auf sie zukommen würde. Nicht nur ein Jurist, der sich an die Vorgaben des KRG Nr.10 halten würde, sondern der eigenständige Ideen dazu entwickeln würde.

Bauer war gleich nach dem Krieg (am 7.Juni 1945) von Schweden nach Dänemark gegangen,
in das Land also, in dem er schon vorher sieben Jahre gelebt hatte. Innerlich war er auch mit einer Rückkehr nach Deutschland beschäftigt, aber es kam kein Ruf oder eine Einladung von dort. „Er sehnte sich nicht nach Deutschland, aber er fühlte eine große Aufgabe: Die Reform des deutschen Rechtswesens“, erinnerte sich die Historikerin und Kollegin Bauers am Sozialwissenschaftlichen Institut in Stockholm, Hanna Kobylinski. (12)

1946 nahm er schließlich von sich aus brieflichen Kontakt zu Kurt Schumacher auf, der inzwischen in Hannover die SPD-Zentrale aufbaute. Beide kannten sich noch von früher aus Stuttgart. Drei Jahre lang versuchte nun Bauer, nach Deutschland zu kommen. Es war ein großer Wunsch,  „dem persönlichen Schwebezustand ein Ende zu setzen“. (13) Schließlich konnte er durch die Vermittlung Schumachers nach Braunschweig kommen. Im Sommer 1948 reiste Bauer nach Braunschweig – erstmals nach 12 Jahren betrat er wieder deutschen Boden. Am 8.August konnte er Schumacher mitteilen, dass er in Braunschweig die nötigen Verhandlungen geführt habe. (14) Dort waren gerade die Stellen des Vorsitzenden des Strafsenats beim Oberlandesgericht und die Stelle des Generalstaatsanwaltes frei. Andere größere Städte wie Berlin oder Stuttgart wären ihm zwar lieber gewesen, aber von Braunschweig er im Exil in Schweden viel von seinem SPD-Kollegen Reinowski erfahren.

Nun schien Niedersachsen auch insofern günstig zu sein, weil es ein neu gegründetes Bundesland war und zudem einen SPD-Ministerpräsidenten hatte. Allerdings gab es auch eine große Koalition mit der CDU. Diese hatte die Leitung des Justizministeriums mit Werner Hofmeister.

Hofmeister war 1933 als Mitglied der Deutschen Volkspartei aus dem Staatsdienst entlassen worden. Nach 1945 war er einer der Mitbegründer der niedersächsischen CDU und erließ ein halbes Jahr später (am 30.März 1948) die „Verordnung über das Verfahren zur Fortführung und zum Abschluss der Entnazifizierung im Lande Niedersachsen“ sowie eine weitere Verordnung im Juli 1948, die erneute Überprüfungen möglich machten, die den Betroffenen niedrigere Einstufungen brachten und viele von der Gruppe IV der Mitläufer in die Gruppe V der Entlasteten brachten.

Was Bauer betraf, wollte der CDU-Justizminister eine Anstellung nicht ohne Weiteres befürworten. Hofmeister forderte Bauer auf, noch einmal nach Hannover zu kommen, um die  Sachlage zu besprechen und möglicherweise etwas anderes zu finden.  Wahrscheinlich – so schrieb Bauer an Schumacher – sei es Hofmeisters „Absicht, mir eine mehr untergeordnete und deswegen kontrollierte Stellung anzubieten, was von seinem Standpunkt aus menschlich, juristisch und auch politisch verständlich ist…“(15)

Bauer war enttäuscht. Er hatte erwartet, dass die enge Nachbarschaft von SPD-Zentrale und Regierung unter Kopf in Niedersachsen zu einem schnellen Erfolg seiner Bewerbung führen würde. Im Herbst 1948 fuhr deswegen noch einmal nach Niedersachsen. Mitte Januar 1949 teilte Justizminister Hofmeister dann Bauer mit, sein Entnazifizierungsverfahren habe ergeben, dass er nicht vom Entnazifizierungsrecht betroffen sei. „Für einen deutschen Juden und Sozialdemokraten, der nach mehrmonatiger KZ-Haft gerade noch ins rettende Exil entkommen war, muss das ziemlich weltfremd geklungen haben.“(16)

Fritz Bauer als Direktor des Landgerichts Braunschweig (April 1949- Juli 1950)
Immerhin konnte Bauer seine Tätigkeit als Direktor des Landgerichts im April 1949 aufnehmen. Aber eben nicht als Generalstaatsanwalt.

„Vom 10.Januar bis 5.April 1950 fand vor dem Schwurgericht Braunschweig der Klagges-Prozess statt. Die Stelle des Generalstaatsanwaltes war immer noch nicht besetzt. Am 9.März 1950 stellte der sozialdemokratische Abgeordnete im Niedersächsischen Landtag, Ernst Böhme, die Anfrage, warum beim Klagges-Prozess kein leitender Staatsanwalt die Anklage mitvertrete. Zudem äußerte Böhme die Vermutung, dass Justizminister Hofmeister die Ernennung  von Bauer zum Generalstaatsanwalt verzögere. Der nächste große NS-Prozess war der Rieseberg-Prozess. Er fand vom 15.Juni bis zum 22.Juli vor dem Schwurgericht Braunschweig statt. Die Stelle des Generalstaatsanwaltes war immer noch nicht besetzt.“ (17)

Wie oben erwähnt, wurde an dem Tag, an dem das Urteil im Rieseberg-Prozess gesprochen wurde (am 22.Juli 1950) der Erlass im Niedersächsischen Justizministerium unterzeichnet, mit dem Bauer mit Wirkung vom 1.August Generalstaatsanwalt wurde. War es Zufall oder  Absicht?

Helmut Kramer weist in dem Zusammenhang auch noch darauf hin, dass in dieser Zeit im Niedersächsischen Justizministerium gleich fünf ehemalige NS-Juristen als Ministerialdirigenten und Abteilungsleiter tätig waren. (18) Möglicherweise übten sie auch Einfluss aus, dass Fritz Bauer nicht beim Klagges- und Rieseberg-Prozess als Generalstaatsanwalt tätig sein konnte.

Im Rieseberg-Prozess wurde keiner der Angeklagten wegen Mordes an den zehn Gefangenen verurteilt. Lediglich der Angeklagte Adler wurde wegen Beihilfe zum neunfachen Mord und wegen Beihilfe zur Körperverletzung mit Todesfolge wegen eines direkten Tatbeitrages verurteilt.(19) Insgesamt wurden die überführten Täter zwischen vier und 25 Jahren verurteilt, zumeist aber schon nach kurzer Haft auf Bewährung erlassen. Klagges wurde wegen „Billigung“ der Morde zu einer Haftstrafe verurteilt. (20)

Der Prozess unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Lüttig wurde eher nachsichtig geführt. Möglicherweise hätte der Prozess durch Fritz Bauer als Generalstaatsanwalt einen anderen Verlauf genommen.

Fritz Bauer als Generalstaatsanwalt
Am 1.August 1950 konnte Fritz Bauer dann endlich als Generalstaatsanwalt in Braunschweig tätig werden. Nun setzte er in Braunschweig Akzente, die für die weitere Rechtsprechung in NS-Verfahren wichtig wurden. Indem es ihm gelang, im anschließenden Remer-Prozess von 1951/52 den NS-Staat als „Unrechtsstaat“ zu erklären, verband er das deutsche Recht wieder mit dem internationalen Recht. Auf dieser Grundlage konnte er seinen Widerstandsbegriff entwickeln und die Männer des 20.Juli durch diesen Prozess rehabilitieren.

Mit diesem Hintergrund konnte er anschließend in Frankfurt als Generalstaatsanwalt die Ermittlungen gegen NS-Juristen, Euthanasie- und Auschwitz-Täter führen. Hier konnte der Impuls aus dem Remer-Prozess wirken. Im Rieseberg- Prozess konnte dieser Impuls noch nicht zur Geltung kommen – aus welchen Gründen auch immer.

Udo Dittmann, Braunschweig

 

 

Anmerkungen:
(1)  Werner Sohn: Im Spiegel der Nachkriegsprozesse. Die Errichtung der NS-Herrschaft im
       Freistaat Braunschweig. Braunschweig. 2003.
(2)  siehe Sohn: S.22
(3)  a.a.O. S.51
(4)  a.a.O. S.53f
(5)  a.a.O. S.33
(6)  a.a.O. S.34
(7)  a.a.O. S.13
(8)  Ingo Müller: Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz.
       München.1987. S. 209
(9)  a.a.O. S.209
(10) Perels/ Wojak in: Fritz Bauer. Die Humanität der Rechtsordnung. Frankfurt.1998. S.26
(11) siehe www.wikipedia.org/wiki/ Hermann_Weinkauff
(12) Irmtrud Wojak: Fritz Bauer. Eine Biographie. München.2009. S.227
(13) Fritz Bauer, in: Wojak , S. 230
(14) Wojak, S.227
(15) Fritz Bauer, zitiert nach Wojak, S.230
(16) Wojak, S.231
(17) siehe Sohn, S.54
(18) Helmut Kramer, in: Sohn S.54
(19) siehe Sohn, S.17
(20) siehe www.wikipedia.org/wiki/Rieseberg-Morde

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