"Die Geschichte von der Rattenlinie"
Zum Vortrag von Eckhard Schimpf
am 25.August 2011 im Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte an der TU

Es war ein bemerkenswerter Vortrag von Eckhard Schimpf, wobei mit der "Rattenlinie"  die Fluchtlinie für NS-Leute aus Italien über Genua nach Argentinien gemeint war. Tausende von SS- und SA-Angehörigen konnten hier mit Hilfe der katholischen Kirche, insbesondere des Vatikans, der Verfolgung entkommen, darunter auch Personen wie Eichmann, Mengele, Klaus Barbie und viele andere.

Im Mittelpunkt des Vortrags stand die Flucht des obersten Nazis in Braunschweig, Berthold Heilig, über die Rattenlinie nach Argentinien. Er war von März 1944 - April 45 Kreisleiter der NSDAP in Braunschweig und hatte insbesondere in den letzten Kriegstagen eine Blutspur in der Stadt hinterlassen. 1947 war er von einem deutschen Gericht zum Tode verurteilt worden. Am 10.Dez.1948 (ausgerechnet an dem Tag, an dem die Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen stattfand) gelang ihm eine abenteuerliche Flucht aus dem Wolfenbütteler Gefängnis. Danach verlor sich seine Spur...

Eckhard Schimpf - ansonsten auch bekannt als Rennfahrer - begann 1995 zu recherchieren, und zwar 10 Jahre lang. Er kam zu erstaunlichen Ergebnissen, die er dann 2005 in seinem Buch "Heilig. Die Flucht des Braunschweiger Naziführers auf der Vatikan-Route nach Südamerika" vorstellte.

Die Dinge, die er dort beschreibt, sind zum Teil erschütternd, insbesondere die Beschreibung der letzten Kriegstage in Braunschweig vom 10.-12.April 1945, die Schimpf als 7jähriger miterlebt hat. Heilig wollte noch am 11.April Braunschweig zur Festung erklären, als schon die Verhandlungen mit den Amerikanern am Stichkanal in Salzgitter liefen. Dann wäre von Braunschweig nicht mehr viel übrig geblieben.

Eckhard Schimpf ist noch jetzt die Betroffenheit über die damaligen Ereignisse anzumerken, insbesondere auch das Kindheitserlebnis, diesen brutalen Menschen durch einen Zufall 1944 im eigenen Garten erlebt zu haben. Dabei gab es eine Situation, die er sein Leben nie vergaß - und die schließlich der Anstoß zu seinen Recherchen wurde.

 

Berthold Heilig, seit März 1944 als Kreisleiter der NSDAP der oberste Nazi in Braunschweig, wollte ausgerechnet in das Haus in der Ferdinandstraße 4 einziehen, in das kurze Zeit später die Familie Schimpf einzog. Heiligs Frau hatte sich dann aber wegen der zentralen Stadtlage und der Gefährdung durch Bombenangriffe dagegen entschieden. Heilig hatte aber noch einen Hausschlüssel und stand plötzlich im Garten. Ein Schmetterling setzte sich auf seine Uniform - Heilig strich ihn mit der Hand weg, der Schmetterling fiel auf den Boden und wurde dort mit den gewichsten Stiefeln von Heilig zertreten.

Die Erinnerung an diese Situation ließ Schimpf nicht mehr los, und er begann 50 Jahre später zu recherchieren. Was er dabei zu Tage förderte, ist abenteuerlich und zum Teil sehr intim. Er erfuhr von Zeitzeugen, wie nach der Verurteilung zum Tode der Ausbruch aus der Todeszelle im Gefängnis von Wolfenbüttel geplant und durchgeführt wurde (von ehemaligen SA-Leuten und seiner früheren Sekretärin, die dann mit einem britischen Sergeanten liiert war); wie er dann über das Netz der "Stillen Hilfe" nach München und Tegernsee kam; wie er als Mönch verkleidet einige Monate in einem Kloster in den Alpen bei Brixen unterkam; wie er dann über das Netzwerk des Bischofs Hudal nach Rom kam und dort über ein Jahr (zusammen auch mit Eichmann und Mengele) lebte ("Die katholische Kirche hat stets alle unterstützt, die in Not sind", wird Eckhard Schimpf bei seinen dortigen Recherchen hören.)und schließlich die Papiere und das Geld für das Schiff nach Argentinien erhielt und  zunächst bei einem evangelischen Pastor in Buenos Aires unterkam.

Es ist enorm, welche Personen Eckhard Schimpf bei seinen Recherchen kennenlernt und die - manchmal erst nach mehreren Versuchen - bereit sind zu erzählen und selbst Einzelheiten weitergeben. Liegt es an der einnehmenden Art von ihm und seiner Persönlichkeit? Er ist offen und verspricht Vertraulichkeit - sonst hätte er wohl nicht so viel erfahren.

Heilig selber schlägt sich dann in Argentinien durch und lässt kurze Zeit auch seine Frau und die drei Töchter nachkommen. Allerdings erfolgt schon nach wenigen Monaten die Trennung. Ein Einschnitt ist, als 1960 plötzlich Eichmann vom Mossad in Argentinien entführt wird. Viele der dort lebenden SA- und SS-Leute fühlen sich nicht mehr sicher. (Anmerkung: Vielleicht hätte auch Fritz Bauer hier noch aktiver werden können, wenn er noch mehr Ressourcen gehabt hätte)  Zu weiteren Festnahmen oder Auslieferungen kam es aber nicht mehr. Heilig selber wurde Alkoholiker und stürzte sich 1978 aus dem 10.Stockwerk eines Hotels in Tucuman und stirbt.

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