Forum Bioethik Stammzellen - Epigenetik/ Info: Büro Hüppe 27.11.2002

Berliner Zeitung 21.11.02

Schussfahrt der Stammzellen

Die Epigenetiker halten den Schlüssel zur besseren Stammzell- und
Klonforschung in Händen 

Sascha Karberg 

Skifahren und Embryonalentwicklung haben mehr gemeinsam, als man denkt.
Diesen Eindruck vermittelt ein 60 Jahre altes Modell des
Entwicklungsbiologen Conrad H. Waddington. An dessen Bedeutung für die
aktuelle Forschung wurde am Wochenende im Rahmen einer gemeinsamen
Tagung von Stammzell-, Klonforschern und einer neuen
Molekularbiologen-Gattung, den Epigenetikern, im Berliner Harnack-Haus
der Max-Planck-Gesellschaft erinnert. 

Ebenso wie Wintersportler sich auf verschiedene Pisten verteilen, um ins
Tal zu fahren, entscheiden sich auch die frühen Embryonalzellen für
bestimmte Entwicklungswege. An der Bergstation stehen noch alle Wege
offen. Aber mit jedem zurückgelegten Höhenmeter nehmen die Möglichkeiten
ab. Nach der Ankunft im Tal, wo kein Schnee mehr liegt, ist die
Differenzierungsfahrt in Haut-, Leber- oder Hirnzelle zu Ende. 

"In der Stammzellforschung versucht man, aus einem Zelltyp einen anderen
herzustellen, indem man die Zelle gewissermaßen umprogrammiert", sagte
Wolf Reik. Der Entwicklungsbiologe am Babraham Institut im britischen
Cambridge benutzte das Waddington-Modell auf der Tagung, um zu
verdeutlichen, dass es große Barrieren gibt, die eine solche
Umprogrammierung verhindern. "Es ist schwer, von dem einen
Waddingtonschen Tal ins nächste zu kommen", sagte Reik. "Die Berge
zwischen den Tälern stellen die Hürden dar, die man nehmen muss, um eine
Leberzelle in eine Hirnzelle zu verwandeln." 

Die Besonderheit einer Zelle wird durch die Gene festgelegt. In jeder
Zelle sind jedoch die gleichen Gene enthalten - insgesamt sind es
schätzungsweise dreißigtausend. Da sich an den Genen selbst nichts
ändert, muss die Unterschiedlichkeit der Zellen epi-genetischer Natur
sein (griechisch epi  neben). Das heißt, neben dem genetischen Code gibt
es Markierungen, die dafür sorgen, dass in einem Gewebe auch die
richtigen, gewebetypischen Gene aktiv sind. 

"Zellen sammeln auf dem Weg in Waddingtons Täler immer mehr
epigenetische Markierungen", sagte Reik. Deshalb bezeichnete Waddington
sein Modell als epigenetische Landschaft. 

Eine der wichtigsten epigenetischen Prägungen beim Menschen ist die
chemische Veränderung der Base Cytosin. Dabei handelt es sich um einen
der vier Grundbausteine des DNA-Fadens. Cytosin kann mit einer
Methylgruppe versehen werden. Methylierte Gene können (in der Regel)
nicht mehr eingeschaltet werden, denn die Methylgruppen wirken für die
Genaktivierungsmaschinerie der Zelle wie unüberwindliche Hindernisse.
Während der Entwicklung der Zellen sind die Methylierungen wie
Pistenbegrenzungen für Skifahrer: Sie weisen den Zellen den Weg. Die
Methylmarkierungen sind wichtig dafür, welche Gene aktiv und welche
inaktiv sind. So ist jeder Zelltyp und jedes Entwicklungsstadium der
Zellen an seinem unverwechselbaren Methylierungsmuster zu erkennen.

Dennoch gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, den Weg der Zellen durch
Waddingtons epigenetische Landschaft gezielt zu verändern. Die
Stammzellforscher versuchen es zum Beispiel mit folgender Strategie: Sie
versuchen die Zellen noch während der Fahrt abzufangen - dann also, wenn
sich die Zellen noch für mehrere Pisten entscheiden können. Zellen in
dieser Phase heißen adulte Stammzellen. Sie kommen selten im
menschlichen Körper vor. Am häufigsten finden sie sich im Knochenmark,
wo sie für die Regeneration der Blutzellen sorgen, und in der Haut. 

Um an mehr Zellen vom gewünschten Typ zu kommen, versuchen Forscher
deshalb, die Zellen aus den Tälern den Hang hinaufzutreiben. Der
Fachbegriff dafür ist "Reprogrammierung". Bei adulten Stammzellen kann
man das epigenetische Programm inzwischen verändern, indem man die
Zellen in einem Cocktail aus Wachstumsfaktoren badet. Aber das
funktioniert eher nach dem Prinzip Versuch und Irrtum: Man weiß vorher
nicht genau, welcher Zelltyp am Ende herauskommt. 

"Um mehr Klarheit zu gewinnen, haben wir Stammzellforscher und
Epigenetiker auf dieser Tagung zusammengebracht", sagte Jörn Walter von
der Universität des Saarlandes. Er leitet mit Bernhard Horsthemke,
Humangenetiker an der Universität Essen, das erste Schwerpunktprogramm
der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema Epigenetik. Ein Ziel
dabei ist, dass epigenetische Muster bald gezielter verändert werden
können. Um im Skisport-Bild zu bleiben: Damit die Forscher ihr Ziel
erreichen, sollen nun Tunnel durch die Berge gebohrt werden. Sie sollen
die Umwandlung eines Zelltyps in einen anderen ermöglichen. Fachleute
sprechen dabei von "Transdifferenzierung".

Aber auch Klonforscher interessieren sich für Epigenetik, denn in ihr
könnte der Schlüssel zum Verständnis liegen, warum so viele
Klonexperimente misslingen. Beim Klonen wird der Zellkern einer
Körperzelle, die längst im Tal angekommen ist, in eine zellkernfreie
Eizelle eingesetzt. Bildlich gesprochen, setzt man den erschöpften
Skifahrer, der schon eine lange Abfahrt hinter sich hat, trotzdem wieder
mit dem Hubschrauber auf dem Gipfel ab. Alle notwendigen Gene für eine
normale Entwicklung sind in der "abgesetzten" Zelle vorhanden, aber
dennoch enden viele der Klonembryonen in den Gletscherspalten der
Waddingtonschen Berglandschaft.

"Die überwiegende Mehrheit geklonter Mausembryonen hat schwerwiegende
Defekte im epigenetischen Muster, nur bei etwa fünf Prozent ähneln die
Methylierungsmuster denen von normalen Embryonen", sagte Reik, der in
Cambridge selbst geklonte Mausembryonen untersucht. Der Klonforscher
Eckhard Wolf, der das erste deutsche Klonkalb "Uschi" schuf, machte
diese Beobachtung auch bei seinen Klonversuchen an Kühen. "Alle
Klontiere sind gleich, aber einige sind gleicher als andere", fasste er
seine Ergebnisse zusammen. "Ein großer Fortschritt für die Klontechnik
wäre es, wenn es gelänge, anhand der epigenetischen Muster die
entwicklungsfähigen Klone von denen zu trennen, bei denen eine
Implantation in die Gebärmutter sich gar nicht lohnen würde", sagte
Reik. Normalerweise findet kurz nach der Befruchtung der Eizelle eine
Neuprogrammierung der Methylierungsmuster der mütterlichen und
väterlichen DNA statt. Die genaue Untersuchung dieses Vorgangs, "sollte
Eingriffsmöglichkeiten eröffnen, entweder in die Zellen, die für das
Klonen verwendet werden, oder in die frühe Embryonalentwicklung der
Klone", sagte Reik.

Auch Krankheiten spiegeln sich in einem veränderten Methylierungsmuster
wider. Inzwischen wissen Epigenetiker zum Beispiel, dass fehlende oder
falsch gesetzte Methylgruppen die Aktivierung von Krebsgenen verursachen
können. Die Berliner Biotech-Firma Epigenomics will das nutzen, um
bessere Früherkennungstests für Krebs zu entwickeln. Diese sollen die
Methylierungsmuster auf der DNA von Gesunden und Kranken unterscheiden
können. Erste Erfolge gibt es bei der Früherkennung von Prostata-,
Nieren- und Blutkrebs. "In sechs Jahren wollen wir einen epigenetischen
Nachweis für Prostatakrebs auf den Markt bringen", sagte Alexander Olek,
Geschäftsführer der Firma. 

Die Epigenetik wird künftig womöglich auch die Diagnose von umwelt- oder
ernährungsbedingten Erkrankungen wie Diabetes erleichtern. Und auch bei
der Behandlung von Krankheiten dürfte die Epigenetik demnächst von
Nutzen sein: "In vielen Labors versuchen Forscher, epigenetische
Informationen in Therapien umzusetzen", berichtete Jörn Walter. Die
kanadische Firma Methylgene beispielsweise hemmt die Methylierung, um
Einfluss auf das Wachstum von Krebszellen zu nehmen.

Auf ein beunruhigendes Phänomen ist Bernhard Horsthemke bei der
Untersuchung von Kindern mit dem so genannten Angelman-Syndrom gestoßen.
Diese geistig und körperlich schwer behinderten Mädchen und Jungen
weisen von Geburt an schwere epigenetische Störungen bestimmter Gene
auf. Dies trifft auch auf Kinder zu, die am Beckwith-Wiedemann-Syndrom
leiden, einer Störung, die unter anderem zu Organmissbildungen führt.
Horsthemke und Kollegen aus den USA entdeckten jetzt, dass auffällig
viele Kinder mit diesen Syndromen im Reagenzglas gezeugt wurden und zwar
mit einer speziellen Technik, bei der das Spermium direkt in die Eizelle
gespritzt wird: die intrazytoplasmatische Spermieninjektion, kurz ICSI. 

"Wir können noch nicht sagen, ob ICSI tatsächlich diese epigenetischen
Fehler auslöst", sagte Horsthemke, der drei Angelman-Kinder betreut, die
per ICSI gezeugt wurden. "Unsere Statistik ist zugegebenermaßen noch
nicht sehr gut", gestand der Essener Forscher ein. Aber die
Datengrundlage der amerikanischen Untersuchungen zum
Beckwith-Wiedemann-Syndrom sei sehr viel besser und werde durch neue
Ergebnisse einer kanadischen und einer britischen Gruppe bestätigt. Nach
Ansicht von Horsthemke gibt es "etliche Hinweise, dass das Risiko für
epigenetische Fehler durch ICSI erhöht wird". Seit einer Weile müssen
die Krankenkassen die Kosten für ICSI übernehmen. Sie hatten einen
Prozess verloren, bei dem sie wissenschaftliche Bedenken äußerten.
Horsthemke fordert nun längerfristige Nachuntersuchungen von
ICSI-gezeugten Kindern.

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