Forum Bioethik Babyklappen und anonyme Geburten

Rührend, aber verfehlt und verfassungswidrig 
Frankfurter Rundschau 13.05.02
 

Der Deutsche Bundestag will Babyklappen und anonyme Geburten regeln /
Ulrike Riedel erhebt rechtliche Einwände gegen das geplante Gesetz 

Die Zahl der Babyklappen in Deutschland nimmt rasant zu. Mütter in Not
sollen damit die Gelegenheit erhalten, ihr Kind anonym zur Adoption
freizugeben. Diese Praxis wollen die Bundestagsfraktionen von SPD,
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP in einem Gesetz regeln. Ulrike
Riedel erhebt mehrere Einwände gegen das Gesetzesvorhaben, die wir im
Wortlaut dokumentieren. Die Autorin ist Rechtsanwältin und Mitglied der
Enquetekommission Recht und Ethik der modernen Medizin des Deutschen
Bundestages. Sie war früher Abteilungsleiterin im Bundesministerium für
Gesundheit. 

Am 26. April diesen Jahres wurde auf Grund einer von der CDU/CSU
initiierten interfraktionellen Arbeitsgruppe von allen Fraktionen mit
Ausnahme der PDS ein "Gesetzentwurf zur Regelung anonymer Geburten" ohne
Debatte in den Bundestag eingebracht. Am 17. Mai soll bereits die dritte
Lesung und Verabschiedung sein, die Ausschüsse werden erst zwei Tage
da-vor erstmalig Gelegenheit haben, sich mit dem Gesetzentwurf zu
befassen. Also eine schon vom Verfahren her ungewöhnliche
Gesetzesinitiative. 

In Anbetracht des wichtigen Zieles der Gesetzesinitiative erscheint dies
zunächst einleuchtend: Es geht um nichts weniger als die Verhinderung
der Aussetzung und Tötung von neugeborenen Kindern, um Lebensrettung,
indem schwangeren Frauen und Müttern in Not Hilfe unter Wahrung ihrer
Anonymität angeboten wird. Umgesetzt werden soll dies durch die
personenstandsrechtliche Legalisierung der anonymen Geburt und der
anonymen Abgabe von Kindern in soziale Einrichtungen oder in
Babyklappen. 

Babyklappen werden seit zwei Jahren zunehmend von gemeinnützigen
privaten und kirchlichen Organisationen und Krankenhäusern trotz
unklarer Rechtslage eingerichtet und dies, obwohl die Zahlen von bekannt
gewordenen Neugeborenentötungen in den letzten Jahrzehnten
kontinuierlich zurückgegangen sind. Derzeit werden pro Jahr zirka 20
Fälle bekannt. Inzwischen gibt es zirka 40 Babyklappen, mehr als
insgesamt darin abgegebene Kinder. Eine Statistik gibt es jedoch nicht. 

In etliche Klappen ist auch nach Jahren des Bestehens des Angebotes noch
kein Kind abgegeben worden. Trotzdem steigt die Zahl der Einrichtungen
ständig. Babyklappen werden auch in Gegenden eingerichtet, wo noch nie
eine Kindesaussetzung oder -tötung bekannt wurde. Babyklappen sind ein
willkommenes und medienwirksames Thema. Jede Einrichtung, die eine
Babyklappe eröffnet, kann sich lobender Erwähnung in der Presse sicher
sein, jedes in einer Babyklappe vorgefundene Kind wird, ohne dass die
dahinter stehenden Umstände bekannt sind, als Erfolg gefeiert.
Babyklappen sind imagefördernd und es wurde sogar schon mit den Fotos
der abgegebenen Babys im Internet für eine bestimmte Einrichtung
geworben. 

Alle Experten, die sich zu Wort melden, vor allem aus dem Bereich der
Adoptionsforschung, Terre des Hommes mit seinen langjährigen
internationalen Erfahrungen mit Adoptionen, der Kinderschutzbund,
Experten in den Jugendämtern, erheben größte Bedenken gegen den
Gesetzentwurf. Bleibt es bei dem Zeitplan, werden diese kaum noch zu
berücksichtigen sein. 

Der Gesetzentwurf hebt die nach dem Personenstandsgesetz bestehende
Pflicht der Mutter und des Vaters, die Geburt ihres Kindes beim
Standesamt anzuzeigen, auf, wenn die Frau keine Angaben zu ihrer Person
machen und anonym bleiben will. Die Anzeigepflicht anderer, wie Hebamme,
Krankenhausleitung, Betreiber von Babyklappen, über die Geburt bzw. die
Abgabe eines Kindes in einer Babyklappe bleibt zwar bestehen. Sie kann
sich dann aber nur noch auf die Geburt eines Kindes mit anonymen Eltern
beziehen. Das Kind erhält nach dem Gesetzentwurf dann einen Amtsvormund
und wird, wenn die Mutter sich nicht innerhalb von acht Wochen
offenbart, zur Adoption freigegeben. 

Folge dieser Regelung ist, dass grundlegende Verfassungs- und
Menschenrechte des Kindes, die in Art. 2 und 6 Grundgesetz garantiert,
im Bürgerlichen Gesetzbuch ausformuliert und auch international in der
UN-Kinderkonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention
verankert sind, nicht mehr durchsetzbar sind - mit lebenslangen Folgen
für Eltern und Kind. Es geht um das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner
Abstammung und daraus abgeleitet sein Recht auf Unterhalt und Fürsorge
durch seine Eltern, sein Erbrecht. Die Rechte des Kindes und auch die
grundrechtlich geschützten Elternrechte, die unverzichtbar und als
höchstpersönliches Recht nur in Ausnahmefällen und auf Grund eines
gesetzlich geregelten Verfahrens übertragbar sind, werden zur
Disposition anonym bleibender Personen gestellt. 

In der Begründung des Gesetzentwurfes wird dieser folgenschwere
Rechtsverlust damit gerechtfertigt, dass das Recht des Kindes auf Leben
Vorrang vor dem Recht auf Kenntnis seiner Abstammung und den daraus
folgenden Rechten habe. Wenn eine rechtliche Regelung (gemeint ist wohl
das Personenstandsrecht) dazu führe, dass ein neugeborenes Kind sein
Recht auf Leben wegen der äußeren Umstände nicht durchsetzen könne, habe
dieser Anspruch auf Leben Vorrang vor dem Recht auf Kenntnis seiner
Abstammung, so der Gesetzentwurf. 

Es ist aber völlig ungeklärt, ob durch die Zusicherung der Anonymität
bei der Geburt oder durch die Möglichkeit der anonymen Abgabe des Kindes
in einer Babyklappe Leben gerettet werden kann. Der Gesetzentwurf geht
davon aus, dass mit dem Angebot der Babyklappe und anonymen Geburt
verhindert wird, dass potenziell gefährdete Frauen, also Frauen, die
keinen Zugang zu den bestehenden Beratungs- und Betreuungsangeboten der
Schwangeren-, Kinder- und Jugendhilfe finden, durch das Versprechen der
Anonymität erreicht werden. 

Für diese Annahme gibt es aber keinerlei valide Hinweise. Vielmehr ist
davon auszugehen, dass Kindstötungen nach der Geburt meist
Affekttötungen und Panikreaktionen von Frauen sind, die ihre
Schwangerschaft neun Monate lang verleugnet haben. Die These, dass
Mütter nach der Geburt durch Babyklappenkonzepte erreicht werden, wurde
auch bereits in einem offenen Brief vom Juli 2001 von der Deutschen
Gesellschaft für Psychoso-matische Frauenheilkunde und Geburtshilfe an
die Bundesjustizministerin widerlegt. 

Scheinbar einfacher Weg 

Der Gesetzentwurf führt völlig abstruse Schätzungen über die Zahl von
Kindstötungen nach der Geburt an. "Fachleute" (die nicht weiter
konkretisiert werden) würden die Dunkelziffer auf das Vierzigfache der
jährlich aufgefundenen 20 bis 24 Fälle schätzen, so der Gesetzentwurf. 

Der Gesetzentwurf unterstellt, dass nur diejenigen Frauen von dem
Angebot der Anonymität Gebrauch machen werden, die sich in einer
besonders schweren Notlage befinden. Davon kann man aber nicht ausgehen.
Die Analyse bekannt geworde-ner Fälle deutet vielmehr darauf hin, dass
sich die Problemlage von Frauen, die anonym entbinden oder ihr Kind
anonym abgeben, nicht von den Problemlagen derjenigen Frauen
unterscheidet, die die bestehenden Beratungs- und
Betreuungseinrichtungen aufsuchen. 

Es geht, so die Vorsitzende des Sozialdienstes katholischer Frauen in
einer Veranstaltung in Berlin, überwiegend um Loyalitätskonflikte der
Frauen. Der Gesetzentwurf knüpft den Verzicht auf die Registrierung des
Namens der Mutter bzw. der Eltern an keinerlei einschränkende
Voraussetzungen. Ausreichend ist, dass "die Mutter des Kindes keine
Angaben zu ihrer Person machen will". Das im Gesetzentwurf geregelte
Angebot der Anonymität richtet sich daher nicht nur an Frauen in
extremen Notlagen, sondern an alle Frauen, die, aus welche Gründen auch
immer, ihr Kind nicht behalten wollen und daher anonym entbinden
und/oder es anonym abgeben wollen. 

Das Angebot richtet sich auch nicht nur an die schwangeren Frauen und
Mütter: Auf Grund der Anonymität und Nicht-Kontrollierbarkeit können
auch andere, wie z. B. der Vater des Kindes, die Verwandten, die sich
einer Schande entledigen wol-len oder der Zuhälter von dem Angebot
Gebrauch machen, denn es wird ja nicht bekannt, wer die Kinder in die
Babyklappe einlegt oder wer die Frau dazu bestimmt, anonym zu entbinden
und keine Angaben zur Person zu machen. 

Die anonymen Angebote werden Folgen für das gesamte bestehende
öffentliche Beratungs- und Hilfesystem haben. Den Frauen wird ein in der
konkreten Situation scheinbar einfacherer Weg zur Verfügung gestellt,
ihr Kind zur Adoption freizugeben, ohne sich einem regulären
Adoptionsverfahren unterziehen zu müssen. Dabei ist zu betonen, dass die
Angebote der regulären Schwangerenbetreuung, der Kinder- und Jugendhilfe
und das Adoptionsverfahren diskret und unter Wahrung der
Verschwiegenheit stattfinden. 

Dass das Gesetz eine andere Zielgruppe als die vom Gesetzgeber erhoffte
erreichen wird, belegen bereits die vom Landeskri-minalamt und
Landesjugendamt in Berlin ermittelten Zahlen: In Berlin werden seit
vielen Jahren durchschnittlich drei bis fünf Neugeborene pro Jahr
getötet und ein bis zwei Neugeborene ausgesetzt. Im Jahr 2001 wurden
trotz drei bestehender Baby-klappen vier Neugeborene getötet. Nachdem
bis November 2001 kein Kind dort abgelegt worden war, wurden im Dezember
innerhalb von zwei Wochen sechs Kinder abgegeben, nachdem über den
ersten Fall ausführlich in der Presse berichtet worden war. Da es
unwahrscheinlich ist, dass die von Aussetzung oder Tötung bedrohten
Kinder alle zur gleichen Zeit auf die Welt kamen, muss davon ausgegangen
werden, dass Kinder abgegeben wurden, die nicht in ihrem Leben bedroht
waren. 

Der angestrebte Verzicht auf die Registrierung der Herkunft des Kindes,
um das Leben von Neugeborenen zu retten, ist rührend, verfehlt aber sein
Ziel und verstößt gegen die Grundrechte des Kindes und der Eltern und
gegen die Verfassungsgrundsätze des Übermaßverbotes und der
Verhältnismäßigkeit. Obwohl nicht seriös behauptet werden kann, dass mit
der angestrebten Regelung Menschenleben gerettet werden kann, wird
gesetzlich die Möglichkeit einer Geburt ohne Registrierung der Herkunft
eröffnet, für jeden, der davon Gebrauch machen will, mit lebenslangen
Folgen für die davon betroffenen Kinder und Eltern. Der Eingriff in
Grundrechte erfolgt dabei nicht durch staatlich kontrollierten
Hoheitsakt mit Rechtsschutzmöglichkeiten, sondern durch Privatisierung
der Entscheidung darüber, ob die Herkunft des Kindes dokumentiert oder
anonym werden soll.

In einem Rechtsstaat darf die Garantie der Grundrechte nicht der
unkontrollierbaren Entscheidungsgewalt von anonymen Personen übertragen
werden, selbst wenn man darauf vertraut, dass letztere nur in extremen
Notlagen von dem Angebot der Anonymität Gebrauch machen werden.

Registerrecht ist Verfahrensrecht. Es soll durch ein verbindlich
einzuhaltendes Verfahren sichern, dass materielle Rechte auch
durchgesetzt werden können. Das Personenstandsrecht hat daher im
Rechtsstaat einen hohen Stellenwert. Mit der angestrebten Regelung wird
das materielle Eltern- Kind-Rechtsverhältnis nicht aufgehoben (erst
durch die nachfolgende Adoption), das wäre verfassungsrechtlich und nach
internationalem Recht nicht zulässig. Das Unterbleiben der Registrierung
der Herkunft des Kindes macht es dem Kind aber unmöglich, seine
Abstammung zu rekonstruieren. Adoptionen ohne die nach derzeitiger
Rechtslage grundsätzlich erforderliche elterliche bzw. mütterliche
Zustimmung werden erheblich zunehmen. Denn weder bei der Abgabe eines
Kindes in einer Babyklappe noch bei einer anonymen Geburt unter
Zurücklassung des Kin-des kann davon ausgegangen werden, dass die
informierte Zustimmung der Frau in eine Adoption vorliegt.

Lebenslange Folgen 

Es ist mittlerweile aus der Adoptionsforschung bekannt, dass sowohl die
abgebende Mutter als auch das Kind lebenslang an den Folgen einer
Adoption zu tragen haben. Der Gesetzentwurf schafft die Möglichkeit,
dass diese weitreichende Entscheidung von Seiten der abgebenden Mutter
in Zukunft ohne Beratung, quasi im "verkürzten Verfahren" der Anonymität
getroffen wird. Das Angebot der anonymen Geburt und der Ablage des
Kindes in einer Babyklappe kann dazu missbraucht werden, das langwierige
Adoptionsverfahren, das dem Kindeswohl und dem Schutz der abgebenden
Mutter bei einer Entscheidung mit tief greifenden Folgen dient, ganz
legal abzukürzen. 

Es gibt dann später keine Möglichkeit mehr, dass das Kind seine Herkunft
klärt, es sei denn, die Mutter macht von der im Gesetzentwurf
vorgesehenen (fakultativen) Möglichkeit Gebrauch, dem Kind eine
Nachricht ihrer Wahl in einem verschlossenen Umschlag zu hinterlegen und
hinterlässt darin die erforderlichen Angaben zur Klärung der Herkunft.
Das Kind soll diesen Umschlag nach dem Gesetzentwurf einsehen können,
wenn es über sechzehn Jahre alt ist. 

Nach dem derzeitigen Adoptionsrecht bleibt die ursprüngliche
Geburtsurkunde erhalten, so dass das Kind später die Mutter bzw. die
Eltern ermitteln kann, wobei den abgebenden Eltern absolute Diskretion
sicher ist. Auf Grund der Erkenntnisse der Adoptionsforschung ist man
seit langem dazu übergegangen, Adoptionen möglichst "offen" zu
gestalten, da das Wissen um die Adoption, ihre Umstände und die Herkunft
für das Kind, die abgebenden und annehmenden Eltern sich als
entscheidend bei der Bewältigung der Adoptionsfolgen herausgestellt hat. 

Im Landesjugendamt Berlin befasst sich eine Mitarbeiterin ausschließlich
mit der Zusammenführung von Adoptivkindern mit ihren abgebenden Müttern.
Mit dem Gesetzentwurf werden diese Erkenntnisse und übrigens auch die
vor noch nicht langer Zeit abgeschlossene Novellierung des
Adoptionsrechtes konterkariert, ohne dass es Hinweise gibt, dass dadurch
Leben gerettet werden kann. 

Zu begrüßen ist, dass nach dem Gesetzentwurf immerhin die Tatsache der
anonymen Geburt eines Kindes und die anonyme Abgabe eines Kindes von dem
Krankenhaus bzw. den Betreibern der Babyklappe dem Standesamt und vom
Standesbeamten dem Jugendamt anzuzeigen ist, welches einen Amtsvormund
zu bestellen hat. Damit soll, so die Begründung des Gesetzentwurfes, dem
Kinderhandel vorgebeugt werden. Dies wird dem Problem des Kinderhandels
aber nicht gerecht: Wenn die Frau nach anonymer Geburt ihr Kind nicht
zurücklässt, sondern mitsamt ihrem Kind verschwindet, was ihr niemand
verwehren kann, ist die Gefahr des Kinderhandels durchaus nicht
ausgeschlossen. 

Das Gesetz hebt lediglich Anzeigepflichten auf und ändert nicht
materielle Rechte des Kindes und der Eltern. Folge ist jedoch, dass die
Ausübung dieser Rechte unmöglich gemacht wird. Alle Verpflichtungen des
Jugendamtes und des bestellten Vormundes bleiben zwar bestehen und der
Vormund bleibt verpflichtet, alle erlangbaren Informationen zur
Rekonstruktion der Herkunft des Kindes zu ermitteln, auch bei den
Mitarbeitern der Einrichtungen. 

Auch die Staatsanwaltschaft bleibt nach dem Legalitätsprinzip weiterhin
verpflichtet, wegen des Verdachtes des Straftatbestandes der
Personenstandsunterdrückung und der Unterhaltspflichtverletzung zu
ermitteln. Ein Auskunftsverweigerungsrecht besteht nur insoweit, als es
sich um Tatsachen handelt, die den Mitarbeitern von anerkannten
Schwangerenberatungsstellen in dieser Eigenschaft anvertraut oder
bekannt geworden sind. Der Gesetzentwurf greift die vielfach erhobene
Forderung, Auskunftsverweigerungsrechte zur Sicherstellung der
Anonymität zu regeln, nicht auf. 

Aber wer sollte sich noch verpflichtet fühlen, die Herkunft eines Kindes
oder den Verdacht von Straftaten aufzuklären, wenn der Gesetzgeber die
Wahrnehmung dieser Aufgaben durch Aufhebung der Mitteilungspflicht der
Eltern und absichtliches Herbeiführen des Nichtwissens erschwert oder
unmöglich gemacht hat? 

Rechtspflichten und Rechtsbewusstsein werden insoweit in Zukunft
auseinander fallen. Es entsteht der falsche Anschein, dass die anonyme
Abgabe in einer Einrichtung und die anonyme Geburt nicht nur
personenstandsrechtlich, sondern überhaupt der Rechtsordnung entspricht.
Dies ist, wie dargelegt, aber nicht der Fall. Man könnte die
beabsichtigte Regelung auch als Mogelpackung mit unübersehbaren Folgen
bezeichnen. 

Neue Nachfrage 

Noch problematischer wird dieser rechtliche Befund bei Berücksichtigung
der Situation der Einrichtungen, die Hilfe zur anonymen Geburt oder
Babyklappen anbieten. Viele davon sind auch mit Adoptionsvermittlung
befasst. Sie sind außerdem auf Spenden angewiesen, die
Überlebensfähigkeit der Einrichtungen kann sogar davon abhängen. Der
Adoptionsmarkt ist eng, auf zehn adoptionswillige Paare kommt ein Kind.
Nur eine "erfolgreiche" Einrichtung, deren Angebote auch genutzt werden,
lässt eine erhöhte Spendenbereitschaft erwarten. Hier sind
Interessenkonflikte vorprogrammiert. 

Die anonyme Geburt wird derzeit schon unter dem Gesichtspunkt der
Nothilfe praktiziert. Kein Krankenhaus darf eine vor der Geburt stehende
Frau abweisen, weil sie ihren Namen nicht sagt. Das muss auch so
bleiben. Die Auswertung von stattgefundenen anonymen Geburten in Berlin
hat ergeben, dass mit sachkundiger Beratung und Beistand unter Nutzung
der bestehenden regulären Hilfs- und Betreuungsangebote allen geholfen
werden konnte - diskret, ohne Aufrechterhaltung der Anonymität. 

Diese Situation wird sich ändern, wenn auch die anonyme Geburt und
anonyme Abgabe eines Kindes zu einem regulären Angebot wird und jede
Frau die freie Wahl unter allen Angeboten hat. Neue Angebote schaffen
eine neue Nachfrage. Frauen können dann noch mehr als bisher unter den
Druck ihres sozialen Umfeldes geraten, von der neuen Möglichkeit
Gebrauch zu machen und auf Beratung, Hilfe und ein reguläres
Adoptionsverfahren zu Gunsten des anonymen Verfahrens zu verzichten. 

Völlig ungeregelt ist auch die Frage der Kostenübernahme. Der
Gesetzentwurf geht davon aus, dass die Kosten wegen der geringen Anzahl
von anonymen Geburten nicht ins Gewicht fallen werden. Dies ist wiederum
eine völlig unbegründete Vermutung. Der Gesetzentwurf selbst geht in der
Begründung immerhin von 800 anonymen Geburten aus. Unter den Vorzeichen,
dass die anonyme Geburt zu einem legalen Angebot wird, die Mutter wegen
der Zusicherung der Anonymität nichts zu be-fürchten hat und ein
Ermittlungsverfahren wegen Betruges wohl ausscheidet, könnte sich dies
bald ändern. 

Auch ist ungeklärt, wer die Unterhaltskosten für ein Kind übernimmt, das
anonym zurückgelassen wurde, für das aber, etwa weil es schwerbehindert
ist, keine Adoptiveltern gefunden werden können. Die Einrichtung, die
das Kind angenommen hat? Oder sollen sich Staatsanwaltschaft und
Jugendamt (nur noch) in diesen Fällen dann auf die Suche nach den Eltern
begeben, um den Unterhalt des Kindes zu sichern? 

Es ist unerlässlich, dass vor Erlass von Gesetzen mit einer solchen
Tragweite die Rechtsfolgen, der Nutzen und Schaden auf der Grundlage von
hinreichend abgesicherten Erkenntnissen ermittelt werden. Dies ist
bisher nicht geschehen. 

Der Hergang des Gesetzgebungsverfahrens zeigt, wie schwer es ist, zumal
in Wahlkampfzeiten, ein in den rechtlichen und tatsächlichen Folgen so
komplexes Thema zu vermitteln. Es ist zu bezweifeln, dass die Tragweite
der beabsichtigten Regelung in der Kürze der geplanten Beratungszeit
noch berücksichtigt werden kann. 

Der Einwand, dass letztes Jahr bereits eine Ausschussanhörung zu der
Problematik stattgefunden hat, zieht nicht. Dieser lag ein völlig
anderer Gesetzentwurf, der die Mitteilungspflicht der Eltern nach
Personenstandsrecht nicht aufgehoben hatte, die Babyklappe nicht
erfasste und zudem das anonyme Angebot zwingend an eine Beratung
knüpfte, zu Grunde. 

Außerdem wurden gewichtige grundsätzliche Einwände aus der Anhörung
bisher nicht thematisiert. Es ist unverständlich, weshalb das hierfür
sachkompetente Justizministerium, das auch bei einer Initiative aus der
Mitte des Bundestages den Abgeordneten seine Sachkompetenz zur Verfügung
zu stellen hat, sich nicht zu Wort meldet. Die schwerwiegenden Einwände,
die von Juristen, Adoptionsexperten, mit der Kinder- und Jugendhilfe
befassten Ämtern und Fachverbänden erhoben werden, haben den Großteil
der Abgeordneten nicht erreicht. Die Befürworter des Gesetzentwurfes
außerhalb des Parlaments kommen aus den Einrichtungen, die die anonymen
Angebote vorhalten oder diese planen. 

Vorblatt und die Begründung des Gesetzentwurfes vermitteln den Eindruck,
als ginge es nur um die Sicherstellung der medizinischen Hilfe für
Frauen bei der Entbindung. Es wird das Bild einer wirksamen Hilfe für
Frauen, die allein gelassen und in öffentlichen Toiletten entbinden
müssen, beschworen und die völlig freierfundene Zahl von 1000 solcher
Geburten pro Jahr zur Begründung des Gesetzesvorhabens angeführt. 

Öffentliche Debatte

Soweit die dargestellten grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken
nicht berücksichtigt würden, ist zumindest eine Nachbesserung mit
folgendem Ziel erforderlich:

1)Die gesetzlich verpflichtende strikte organisatorische und personelle
Trennung der Einrichtungen, die anonyme Geburten vermitteln, betreuen
oder Babyklappen vorhalten, von denen der Adoptionsvermittlung.

2)Die Pflicht zur Dokumentation über die Entwicklung von Anzahl und
Umstände von anonymen Geburten und anonym abgegebenen Kindern, um dem
Bundestag die Möglichkeit einer frühzeitigen Rechtsfolgenabschätzung zu
geben.

3)Regelung der Rechte und Pflichten des Amtsvormundes.

4)Regelung der Kostenübernahme für anonyme Geburten und des Unterhaltes
für Kinder, die nicht in eine Adoption vermittelt werden können.

5)Verknüpfung der anonymen Angebote mit einer obligatorischen
Beratungspflicht, wie dies im ursprünglichen Ge-setzentwurf der CDU/CSU
auch vorgesehen war. 

Über die umfangreichen derzeit bestehenden diskreten nicht-anonymen
öffentlichen Hilfen für Schwangere und Mütter muss so werbewirksam
aufgeklärt werden, dass sie für jede Frau ohne Aufwand sofort ermittelt
und in Anspruch genommen werden können. 

Zuallererst aber muss eine öffentliche Debatte geführt werden über die
Sinnhaftigkeit von anonymen Hilfsangeboten im sozialen Rechtsstaat.
Anonymität schafft Missbrauch ohne Kontrollmöglichkeit. Anonyme Angebote
stärken nicht, sondern schwächen diejenigen, die davon Gebrauch machen.
Schwangeren Frauen und Müttern in Not muss jede nur erdenkliche Hilfe
zuteil werden bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung und nicht bei der
Entledigung von der Verantwortung.

http://www.fr-aktuell.de/fr/160/t160001.htm

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