Forum Bioethik Rede von Rechtsanwalt Frey am 13. 8. 2001 in Genf

Schriftlich ausgearbeitete Rede, die von Rechtsanwalt Alexander Frey, Mitglied des Forums und Sprecher des Arbeitskreises gegen Menschenrechtsverletzungen, am 13. 8. 2001 in Genf vor den Mitgliedern des Ausschusses  für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gehalten hat.

Anrede,

in der Bundesrepublik Deutschland leben ca 400.000 Menschen in Pflegeabteilungen von Altenheimen. Mehr als die Hälfte dieser Bewohner ist psychisch krank oder altersdement.

Untersuchungen der Medizinischen Dienste der Krankenkassen und die Recherchen einer Reihe von privaten Organisationen haben ergeben, dass in den Einrichtungen erhebliche Defizite bestehen:

1. Ca 85 % der Bewohner sind unterernährt, da für das Pflegepersonal oft keine Zeit besteht, Hilfestellung beim Essen zu leisten oder die Ernährung nicht altengerecht ist.
2. 36 % der Bewohner leiden an Austrocknung, da sie nicht genügend zu trinken erhalten.
3. Auf Grund der schlechten Ernährungssituation und auf Grund der Tatsache, dass die Bewohner oft über längere Zeiträume nicht gewaschen oder geduscht werden, entstehen offene Wunden. 25 % der Bewohner leiden an Decubitusstellen (offenen Wunden). 5 % leiden an schwerem Decubitus. Demnach sind ca 20.000 Heimbewohner einem ähnlichen Decubitus ausgesetzt, wie er auf dem von mir mitgebrachten Bild zu sehen ist. Die Bewohnerin erhielt auf Grund der nachweisbar falschen Pflege 46.000 DM Schmerzensgeld.
4. Es werden Katheder gelegt, um die Menschen nicht auf die Toilette bringen zu müssen. Es werden Magensonden gelegt, um keine Hilfestellung beim Essen leisten zu müssen.
5. Es werden starke Psychopharmaka zur Ruhigstellung gegeben. Zeit für Zuwendung, z.B. bei der Sterbebegleitung, bleibt nicht.
6. Kritiker erhalten Hausverbote, das Akteneinsichtsrecht wird verweigert, um die Möglichkeit von gerichtlichen Schritten auszuschließen.
7. Ca 400.000 freiheitsentziehende Maßnahmen, z.B. Festbinden von Personen, starke Psychopharmaka, werden täglich durchgeführt. Dies geschieht oft ohne richterliche Genehmigung, entgegen der in der Bundesrepublik bestehenden Gesetzeslage.
8. Nach einer Untersuchung eines großen Verbandes mit 500.000 Mitgliedern (Sozialverband Deutschland) sterben in den Pflegeheimen bundesweit ca 10.000 Menschen jährlich auf Grund der verheerenden Pflegesituation.

Zu Unrecht weist die Bundesregierung darauf hin, dass es sich hier um „bedauerliche Einzelfälle“ handeln würde und die Pflege insgesamt „optimal“ sei. Ein Pflegeschlüssel von 1: 2,8, der in der Bundesrepublik üblich ist, bedeutet, dass schwerstpflegebedürftige Menschen rund um die Uhr in 3 Schichten gepflegt werden. Bedenkt man Urlaub, Krankheit, Fortbildung usw. kommt man zu der Situation, dass 28 Schwerstpflegebedürftige von höchstens 2 oder 3 Personen gepflegt werden und die tatsächliche Pflege pro Person nicht einmal 1 Stunde am Tag beträgt. Unter diesen Bedingungen ist eine menschliche Pflege nicht möglich !  Die Bundesrepublik Deutschland hat ein Heimbewohnerschutzgesetz und ein Qualitätssicherungsgesetz vorgelegt, das jedoch keine Verbesserung bringen wird, da im Gesetz nicht geregelt ist, wie viel Personal künftig für wie viel Bewohner angestellt werden soll und wie viel Personal tatsächlich für jeden Bewohner vorhanden sein muss.

Unwahr ist die von der Bundesregierung aufgestellte Behauptung, dass für die Pflege nicht genügend Geld da sei. Eine Personalvermehrung würde zu Einzahlungen in Sozialkassen, Entlastung der Arbeitsämter und Kommunen als Sozialhilfeträger führen. Allein die Kosten für Krankenhausaufenthalte von Bewohnern, die an Austrocknung und Decubitus auf Grund der ungenügenden Pflege leiden, geht in die Milliarden DM. Die Überbelastung des Personals führt zu einer Erhöhung des Krankenstandes und zu frühzeitiger Erwerbs- und Berufsunfähigkeit. Die Mehrkosten für Krankenkassen und Rentenversicherungen auf Grund der Überlastung des Pflegepersonals gehen jährlich ebenfalls in die Milliarden DM. Die Bundesregierung müsste verhindern, dass Heimbetreiber ohne angemessene Gegenleistung die Bewohner abkassieren.

In der Bundesrepublik Deutschland werden täglich tausendfach die Tatbestände der Körperverletzung und Freiheitsberaubung erfüllt. Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, gilt nicht in Altenheimen, in Altenheimen ist die Würde des Menschen antastbar. Nach Artikel 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland hat jeder das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Die Bundesregierung schaut desinteressiert zu, wie diese Grundrechte verletzt werden.

Artikel 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten besagt, dass niemand einer unmenschlichen Behandlung unterworfen werden darf. Nach Artikel 11 des internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte soll jeder Bürger einen angemessenen Lebensstandard erhalten. Nach Artikel 12 erkennen die Vertragsstaaten das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an.

Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland tritt die Grundrechte der Bundesrepublik Deutschland und die internationaler Vereinbarungen mit Füßen.

Das Forum zur Verbesserung der Situation pflegebedürftiger alter Menschen in Deutschland bittet das Komitee über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte seine Besorgnis über die Lage von Menschen in Pflegeheimen in der Bundesrepublik Deutschland auszudrücken und darauf hinzuwirken, dass Menschen in Pflegeheimen in der Bundesrepublik Deutschland bis zu ihrem Tod menschlich und fachlich qualifiziert gepflegt werden.

Alexander Frey
Rechtsanwalt, Sprecher des Arbeitskreises gegen Menschenrechtsverletzungen

2. Schlussfolgerungen des Komitees 
(unveröffentlichte Version vom 31. August 2001, Original: Englisch)

Bundesrepublik Deutschland

(…) C. Hauptsächliche Sorgenpunkte (Beanstandungspunkte)
(...)
24.  Das Komitee gibt seiner großen Sorge Ausdruck über die menschenunwürdigen (inhumanen) Bedingungen in Pflegeheimen, infolge von strukturellen Mängeln (Schwächen) im Pflegebereich, wie dies vom Medizinischen Dienst (den Medizinischen Diensten) der Krankenkassen (MDS) bestätigt worden ist.
(...) E. Vorschläge und Empfehlungen
42. Desweiteren drängt das Komitee die Bundesrepublik, dringende Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation der Patienten in Pflegeheimen zu verbessern. (...)
48. Das Komitee bittet die Bundesrepublik, für die weite Verbreitung seiner abschließenden Betrachtungen in allen gesellschaftlichen Schichten (Ebenen) und das Komitee in ihrem nächsten periodischen Bericht über alle unternommen Schritte zur Umsetzung der abschließenden Betrachtungen zu informieren. Das Komitee ermutigt auch die Bundesrepublik, darin fortzufahren, Nicht-Regierungsorganisationen und andere Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft an der Vorbereitung ihres fünften periodischen Berichts zu beteiligen.
49. Abschließend bittet das Komitee die Bundesrepublik, ihren fünften periodischen Bericht (Staatenbericht) bis zum 30. Juni 2006 einzureichen, einschließlich detaillierter Information bezüglich der unternommenen Schritte zur Umsetzung der Empfehlungen, die in den jetzt (aktuellen) „abschließenden Betrachtungen“ des Komitees enthalten sind. 
 

3. Aktion ab 17. 9. 2001 (nachlesbar unter www.verhungern-im-heim.de)
a) Bitte fordern Sie beim Auswärtigen Amt die deutsche Übersetzung der Concluding Observations des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der UN in Genf vom 31. 8. 2001 an. Diese deutsche Übersetzung wird in der Regel nicht erstellt, da breitflächige Veröffentlichung aufgrund der vielen Regierungskritik darin nicht erwünscht wird. Aufgrund unseres Nachdruckes wurde nun die Übersetzung versprochen und sollte deshalb auch auf eine breite Nachfrage stoßen. (Anmerkung R.D.: oben (unter 2) haben Sie die vorläufige, inoffizielle Übersetzung der Passagen, die die Situation in Heimen betreffen.)
Adresse: 
             Auswärtiges Amt    Werderscher Markt      11013 Berlin
             Tel  01888/ 17-0
             Fax 01888/ 17-3402
             Mail: übers Internet: www.auswaertiges-amt.de unter Link „Kontakt“ direkt möglich.

b) Schreiben Sie an den Deutschen Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, 11011 Berlin  Platz der Republik 1     (Fax: 030/ 227-36051) und fordern Sie ihn auf, die Forderungen der UN in Genf in einer Bundestagssitzung allen Bundestagsmitgliedern vorzustellen und einen dringenden Maßnahmenkatalog aufzustellen, um die Pflegemissstände sofort abzustellen. Der Ausschuss soll Sie umgehend über die unternommenen Schritte informieren.

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